Philosophisches Zauberstück

14.07.2011
In seinem Essay "Streß und Freiheit" geht der Philosoph Peter Sloterdijk der Frage nach, wie individuelle Freiheit und Gemeinwohl miteinander vereinbar sind. Ein Text voller Leichtigkeit, der über enorme Sprengkraft verfügt, meint unser Rezensent.
Obwohl das Staunen als die Geburtsstunde der Philosophie angesehen wird, kommt Peter Sloterdijk in seinem glänzend geschriebenen Essay "Streß und Freiheit" zu dem Schluss, dass den gegenwärtigen Geistes- und Sozialwissenschaften das Staunen offensichtlich abhanden gekommen ist. Denn müsste man nicht ins Staunen geraten, dass die "großen politischen Körper" überhaupt funktionieren, die er der Einfachheit halber Gesellschaften nennt.

Den westlichen Gesellschaften gelingt es, ihre Mitglieder stets aufs Neue dazu zu bewegen, sich einem täglichen "Selbsterhaltungsstreß" auszusetzen. Und dies, obwohl seit Rousseaus "Träumereien eines einsamen Spaziergängers" (1776/77) die Idee in der Welt ist, dass der Mensch schönstes Wohlgefallen dabei empfinden kann, wenn er träumt und ganz bei sich ist: wenn er sich den Zwängen der Gesellschaft entzieht.

Sloterdijk beschreibt Gesellschaften als "streß-integrierte Kraftfelder", als "nach vorne stürzende Sorgen-Systeme". Sie finden Sorgen heraufbeschwörende Themen und stiften so eine permanente Unruhe, sodass die Einzelnen zu einer "Erregungsgemeinschaft" zusammengeführt werden, wenn sie – erfasst von den Themen – darüber diskutieren. Sie tun es mit Eifer, gerade dann, wenn sie die Freiheit in Gefahr sehen.

Freiheit aber ist das Ergebnis einer kollektiven Empörung. Dabei geht er auf die Geschichte der schönen Lucretia ein, von der Titus Livius berichtet, dass sie von einem Königssohn zu sexuellen Handlungen gezwungen wurde. Bevor sie sich wegen der Schande selbst tötete, berichtete sie ihrem Vater und ihrem Mann, was sich ereignet hat. Daraufhin kam es zu einem Aufstand, der Tyrann wurde gestürzt und eine res publica gegründet. Sloterdijk beschreibt dieses Ereignis als die "erste Urszene" des europäischen Freiheitsbegriffs. Sie beruht auf Empörung, auf geteilter "Zornaufwallung".

Die "zweite Urszene" nimmt mit dem Auftreten des reflektierenden Individuums Gestalt an, das gewillt ist, sich aus dem Bann des Kollektiven zu lösen, indem es sich selbst unter ein höheres Gesetz stellt (Natur, Glauben, Glückssuche). Diese Urszene macht Sloterdijk an Rousseaus "Träumereien" fest.

Der einzelne wird aber mit zwei Formen von Unfreiheit konfrontiert. Es handelt sich zum einen um "politische Unterdrückung" und zum anderen um "Bedrückung durch die Realität". Revolutionen sind nach Sloterdijk das Resultat einer Stress-Bilanz. Wenn die Stressvermeidung teurer zu stehen kommt, als der Stress, der durch eine Revolution bewirkt wird, dann sind Kollektive bereit, Herrschaftssysteme, die zu viel Druck ausüben, abzuschaffen.

Wer allerdings einmal die Erfahrung der völligen Stressfreiheit gemacht hat, ist nur schwer zu integrieren. Deshalb geht für Sloterdijk von literarischen Figuren wie Gontscharows Oblomow oder Melvilles Bartleby eine Gefahr aus. Als Beispiele weltabgewandter Müßiggänger strahlen sie gefährlich in jede Gegenwart hinein und sind in der Lage, eine "Kettenreaktion" auszulösen, "die mit der Zeit die gesamte Gesellschaft verstrahlen könnte, sofern nicht rechtzeitig subjektivitätsdämpfende Maßnahmen ergriffen werden".

Sloterdijk ist ein philosophischer Zauberer, der es versteht, gänzlich unaufgeregt über Zorn und Empörung nachzudenken. Diese Leichtigkeit ist von enormer Nachhaltigkeit. Sie kommt einem Text zugute, der über enorme Sprengkraft verfügt.

Besprochen von Michael Opitz

Peter Sloterdijk: Streß und Freiheit
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
60 Seiten, 8 Euro