Philosophischer Wochenkommentar zum Asyl-Streit

Ausverkauf des Liberalismus

Ein Grenzzaun zwischen Ungarn und Serbien
Grenzzaun zwischen Ungarn und Serbien: Svenja Flaßpöhler rät zur Lektüre der Urtexte des Liberalismus. © imago stock&people
Von Svenja Flaßpöhler · 08.07.2018
Auch Liberale pochen im Streit um Migration auf Abschottung und Schutz des eigenen Wohlstands, kritisiert die Philosophin Svenja Flaßpöhler: Damit widersprechen sie einer Kernposition des Liberalismus, die auf die Freiheit aller Menschen zielt.
"Es muss mehr Ordnung in alle Arten der Migration kommen, damit Menschen den Eindruck haben, Recht und Ordnung werden durchgesetzt." So Angela Merkel wörtlich im Deutschen Bundestag am vergangenen Mittwoch. Recht und Ordnung – diese Begriffe fielen auffällig oft mit Blick auf den nun gefundenen Kompromiss. Man hoffe, so CSU-Generalsekretär Markus Blume einen Tag später, durch die Wiedereinsetzung des Rechts den Menschen Sicherheit zurückzugeben – und so den Populisten das Wasser abzugraben.
Recht und Ordnung – damit ist im Kern gemeint: Es ist unser gutes Recht, Verantwortung für Flüchtlinge abzulehnen. Wir müssen Grenzen ziehen, Menschen zurückweisen, sie in Transitzonen einsperren, um die Kontrolle zu behalten, unseren Besitzstand zu wahren und unsere Freiheit, ja, unser Leben vor Fremden zu schützen.

Verantwortung nur bis zum eigenen Gartenzaun?

Dass auch die FDP den Abschottungskurs im Kern unterstützt, kann nicht verwundern – ist eine solch verrechtlichte, begrenzte Verantwortung doch aufs Innigste mit der Geschichte des Liberalismus verbunden: Entsprechend schrieb John Locke, einer der Väter des Liberalismus, 1689 in seiner Schrift "Zwei Abhandlungen über die Regierung": Jeder Mensch hat das Recht, "über seinen Besitz und seine Person zu verfügen, wie es einem am besten scheint – ohne jemandes Erlaubnis einzuholen und ohne von dem Willen eines anderen abhängig zu sein."
Mit anderen Worten: Die Rechte des Bürgers – seine Freiheit, sein Leben, sein Eigentum – müssen gegen unlauteren Zugriff geschützt werden. Koste es was es wolle. Was Locke für den einzelnen Bürger proklamierte, wiederholt sich nun durch die Abschottungspolitik auf staatlicher Ebene. Das nationale Recht auf Besitzstandswahrung gilt unbedingt.
Die Philosophin Svenja Flaßpöhler
Svenja Flaßpöhler kommentiert die Zweischneidigkeit des Freiheitsgedankens.© Svenja Flaßpöhler
An dieser Stelle offenbart sich die Janusköpfigkeit des Liberalismus. Auf der einen Seite ist er jene geistige Strömung, die dem modernen Recht und der Sicherung des Privaten den Weg ebnete. Auf der anderen Seite jedoch sah schon Karl Marx im bürgerlichen Recht die "Berechtigung des egoistischen, vom Mitmenschen und vom Gemeinwesen abgesonderten Menschen feierlich proklamiert." Vereinfacht gesagt: Ein Mensch oder ein Staat, der sich in seinem individualistischen Recht einhegt, übernimmt Verantwortung nur bis zum eigenen Gartenzaun.

Freiheit ohne Furcht für alle Menschen

Vor dem Hintergrund des immensen Rechtsrucks in der Migrationspolitik ist es allerdings dringend geboten, die Urtexte des Liberalismus noch einmal genau zu lesen. Schaut man nämlich näher hin, geht es schon bei Locke durchaus nicht nur um die Freiheit von einzelnen, sondern um die Freiheit eines jeden Menschen. Auf diesen universalen Grundgedanken mit Nachdruck gepocht hat die Philosophin Judith Shklar.
So schreibt sie in ihrem sehr lesenswerten Essay "Liberalismus der Furcht": "Es war einst das Merkmal des Liberalismus, kosmopolitisch zu sein und die Verletzung von Leben und Freiheit der Mitglieder jedweder Gruppe überall auf der Erde zu seiner ureigenen Angelegenheit zu erheben. Es ist ein empörendes Paradox, dass gerade der Erfolg des Liberalismus in manchen Ländern das politische Einfühlungsvermögen seiner Bürger hat verkümmern lassen."
Das erste und oberste Ziel des Liberalismus ist es, so Shklar, die Bedingungen für die Ausübung politischer Freiheit zu sichern. Das heißt, es allen Menschen zu ermöglichen, nach ihren Überzeugungen und Neigungen zu leben und sie von lähmender Furcht zu befreien. Was wir von Judith Shklar lernen können: Niemand, der auf Recht und Ordnung pocht, liebt die Freiheit. Und niemand, der Wohlstandsängste hofiert, während er die Furcht der Anderen ignoriert, nenne sich liberal.
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