Philosophischer Wochenkommentar

Über das "Othering" von Tieren

Eine muhende Kuh auf der Weide.
Ein sattsam bekannter Mechanismus: Über das Schmerzempfinden von Nutztieren geht der Mensch oft hinweg. © imago stock&people
Von Catherine Newmark · 26.11.2017
Tiere haben Gefühle! Was Bauern wie Hundehaltern seit jeher klar ist, will das britische Unterhaus nicht anerkennen. Das heißt aber nicht, dass die Abgeordneten wirklich daran zweifeln: Sie entschieden aus politisch-strategischem Kalkül.
Zunächst mal: Anders als viele britische Medien entrüstet berichten, hat die konservative Mehrheit der Abgeordneten im britischen Unterhaus nicht dekretiert, dass Tiere keine Gefühle oder kein Schmerzempfinden hätten. Sie hat lediglich – schlimm genug – sich dagegen entschieden, diese kaum bestreitbare Tatsache in Gesetzesform zu gießen. Schlimm ist das, weil es reale und praktische Konsequenzen für den Tierschutz und insbesondere die Haltung von Nutztieren haben kann.
Denn ein Erkenntnisproblem besteht hier nicht. Dass Tiere Schmerz empfinden können, ist dem Menschen nicht nur in seinem Alltag mit Nutz- und Haustieren seit jeher evident, sondern wird auch in der Geschichte des Denkens von kaum jemandem bestritten. Zwar dominiert über Jahrhunderte die religiöse Vorstellung von der Sonderstellung des Menschen, die ihn zur instrumentellen Nutzung von Tieren berechtigt. Ganz wie es schon im ersten Buch der Bibel heißt:
"Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht."
Und ja, René Descartes ließ sich im 17. Jahrhundert zu der These verleiten, dass Tiere nichts anderes als Maschinen seien, was aber auch damals schon kaum jemandem plausibel erschien.

Alle Lebewesen haben Seelen

Philosophisch viel wichtiger war über die Jahrtausende die aristotelische Biologie, die keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Menschen und Tieren macht, sondern eher in Stufen denkt: alle Lebewesen haben Seelen, in denen es unterschiedliche Vermögen gibt, von der Ernährungs- über die Fortbewegungsfähigkeit bis zur Wahrnehmung und zur Erkenntnis. Letztere mag Eigenschaft allein des Menschen sein, aber alle Tiere sind im Besitz der restlichen Vermögen, inklusive der Wahrnehmungsfähigkeit, mithin auch der Fähigkeit, Lust und Schmerz zu empfinden. Was im Grunde nichts anderes als die Fähigkeit zu basalen Emotionen ist.
Ganz ähnlich nähert sich der Sache die moderne Biologie seit dem 19. Jahrhundert. Für die Evolutionstheorie seit Charles Darwin ist klar, dass der Mensch ein Tier unter anderen ist, wenn auch mit höher entwickelten kognitiven Fähigkeiten. Darwin selbst widmete ein ganzes Buch dem Vergleich der Emotionen bei Menschen und Tieren, in dem er seinen viktorianischen Zeitgenossen auf unterhaltsame Weise nahebrachte, wie ähnlich sie in ihren Gesichtsausdrücken von beispielsweise Freude oder Furcht ihren Haustieren waren.
Schwer zu glauben, dass diese Einsichten in Vergessenheit geraten sind. Schon gar nicht in einem Land, dessen Queen ihre mutmaßlich engsten persönlichen Beziehungen zu kleinen Hunden, den berühmten Corgis, unterhält. Es wäre mehr als erstaunlich, wenn die britischen Abgeordneten tatsächlich glaubten, dass Hunde, Katzen, Pferde oder Kühe keine Empfindungen hätten.

Gezieltes "anders machen" von nicht genau Gleichem

Viel naheliegender also, dass ihrer Entscheidung nicht ein Erkenntnisproblem, sondern ein solches der Moral zugrundeliegt. Angesichts der massiven ökonomischen Ängste der britischen Landwirtschaft, die nicht nur den Zugang zum Binnenmarkt verlieren wird, sondern Schätzungen zufolge allein durch den Verlust der EU-Subventionen bis zu 55 Prozent ihrer Einkünfte einbüßen wird, kommt hier offensichtlich eine politisch-strategisches Kalkül zum Tragen. Man beschneidet die Rechte von Nutztieren, und zwar mittels dessen, was die Fachsprache "Othering" nennt, also dem gezielten "anders machen" derer, die mir nicht genau gleich sind.
Es ist ein auch aus der Diskriminierungs- und Ausbeutungsgeschichte von Menschen untereinander sattsam bekannter Mechanismus. Es ist eben leichter, diejenigen schlecht zu behandeln, die ich als grundlegend anders als mich selbst definiert habe. So zumindest scheinen die britischen Abgeordneten kalkuliert zu haben, als sie ihre Stimme abgaben. Bevor sie sich abends beim Heimkehren ohne Zweifel wieder über den rührenden emotionalen Empfang durch ihre eigenen Schoßhunde und Hauskatzen freuten.
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