Philosophin Frick zur Streitkultur

Finger weg vom Konsens

FDP-Chef Lindner und der Grünen-Vorsitzende Özdemir in einer Fernsehdiskussion
Zwei, die sich gern streiten: FDP-Chef Lindner und der Grünen-Vorsitzende Özdemir © picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
Marie-Luisa Frick im Gespräch mit Dieter Kassel  · 09.10.2017
Die Koalitionsverhandlungen dürften hitzig werden - doch können wir das überhaupt noch: Einen Streit mit Argumenten austragen? Besser wäre das, meint die Philosophin Marie-Luisa Frick. Denn der Konsens bringe die Demokratie nur in Bedrängnis.
Dieter Kassel: Was gute Musik ist und was schlechte – ich glaube, da wird sich die Menschheit niemals einig sein. Allerdings denkt ja auch niemand, dass die Erde nur dann ein guter Ort sein kann, wenn auch die Fans der härteren Gangart sagen, ich liebe eigentlich die Nine Inch Nails, aber Helene Fischer ist doch auch schön. In der deutschen Politik aber schien das seit Jahren ungefähr so zu laufen: Das einzig erstrebenswerte Ziel bei Meinungsverschiedenheiten schien immer zu sein, am Ende bei einem Konsens anzukommen, aber ist dieser Konsens wirklich stets erstrebenswert in der Politik, und wird sich jetzt in Deutschland alles ändern durch die AfD, wie so viele sagen?
Das und mehr wollen wir jetzt von Marie-Luisa Frick wissen. Sie ist assoziierte Professorin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck, und sie ist Autorin des Buches "Zivilisiert streiten: Zur Ethik der politischen Gegnerschaft". Schönen guten Morgen, Frau Frick!
Marie-Luisa Frick: Einen schönen guten Morgen aus Innsbruck!
Kassel: Fangen wir doch mal sehr, sehr grundsätzlich an: Muss es unter zivilisierten Menschen, wenn es einen Streit gibt, immer das anzustrebende Ziel sein, sich am Ende auf irgendwas zu einigen?

Keine Konflikte, keine Argumente

Frick: Ich denke gerade nicht, und zwar nicht in demokratischen Kontexten, denn hier sind aufgrund der Meinungsvielfalt Konsense sehr schwer zu erreichen, und oft reichen uns ja Kompromisse. Sie sind oft auch schon schwer genug zu erreichen. In einer Demokratie brauchen wir, meines Erachtens, keinen Konsens. Es reichen Mehrheitsentscheidungen mit entsprechenden Rechten für die demokratische Minderheit.
Viel wichtiger als Konsense sind meines Erachtens Verstehensprozesse, warum wir mit wem nicht einer Meinung sind, dass wir stärker auf der argumentativen Ebene nachvollziehen, was eigentlich hier vorliegt, welche Art von Konflikt um Ziele, um Mittel, und wie wir vielleicht auch uns besser hier einordnen und gegenseitig verstehen können, ohne uns ständig, viel zu oft gewiss auch, Entlastungszuschreibungen zukommen zu lassen im Sinne von: mit diesen Menschen kann man nicht diskutieren, die sind unvernünftig, die sind ungebildet, die sind Versager und Schlimmeres et cetera.
Kassel: Das klingt jetzt ein bisschen so als seien wir … Ich hätte da noch ein bisschen gewartet, aber seien wir jetzt schon bei der AfD oder sind Sie als Österreicherin mit dem, was Sie jetzt am Schluss gesagt haben, eher bei der FPÖ?
Frick: Wir haben in ganz Europa, und nicht nur in Europa, gewisse Phänomene, wo wir sehen, dass Frustrationen, die bei vielen Menschen vorliegen, auch zu Aggressionen führen im politischen Diskurs und sich dann der zivilisierte Streit in dieser Form nicht erreichen lässt, und ich glaube, dass das sehr viel auch mit Frustrationen darüber zu tun hat, dass man glaubt, die eigene Meinung zähle nicht, man könne ohnehin nichts beeinflussen oder die eigene Meinung ist falsch oder sogar unanständig.
Kassel: Aber wenn man jetzt den Umgang mit populistischen Parteien – wir müssen vielleicht gleich noch mal über diesen Begriff ein bisschen diskutieren, Populismus, aber lassen Sie mich ihn in diesem Moment einfach mal benutzen –, wenn wir über den Umgang mit populistischen Parteien reden und jetzt in Deutschland zum Beispiel hören von Oppositionsparteien oder vielleicht auch zukünftigen Mitregierenden, ich sehe es als meine Aufgabe, die zu bekämpfen – klingt das für Sie noch nach Streit oder klingt das schon nach Feindschaft?
Frick: Es ist starke Rhetorik. Entscheidend ist, ob hinter dieser Rhetorik eine demokratische Grundhaltung steht, dass wir zwar die politischen Gegner als solche anerkennen, aber gleichzeitig nicht vergessen, dass wir mit ihnen ein Band teilen, das Band der demokratischen Auseinandersetzung, der demokratischen Arena, wo diese Gegner Gegner sind, aber keine Todfeinde. So hat es der US-amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt ausgedrückt, und ich glaube, das ist ein sehr guter Vergleich und auch eine sehr wichtige Mahnung an uns, wenn wir mit Menschen unterschiedlicher Meinung diskutieren und auch oft sehr hart zur Sache gehen.
Kassel: Jetzt gehen wir mal dahin zurück, wo ich vorhin schon sein wollte. Lassen wir mal AfD und auch FPÖ weg und blicken auf das davor, gerade auch in Deutschland. Da hatte ich in den letzten Jahren so das Gefühl, es geht gar nicht darum zu vermeiden, Streits eskalieren zu lassen, Menschen zu verletzen, es geht eher darum, dass viele Politiker doch das eigentliche Streiten ein bisschen verlernt haben. Ich hatte oft den Eindruck, wenn man selber etwas sagt, sagt man immer ja, aber es kann auch anders sein, und ich akzeptiere, dass jemand anderes eine andere Meinung hat. Ist es nicht manchmal auch viel zu vorsichtig, viel zu sehr darauf bedacht, dass alles immer in einem Konsens ändert?
Frick: Das glaube ich schon. Ich glaube, dass zusätzlich noch, gerade für die herrschende Politik, natürlich es sehr einfach ist, wenn man Konsens voraussetzt oder auch mit medialer Hilfe sozusagen Konsens herstellt. Das ist sicher etwas, was viele dazu führt, gewisse Themen nicht in größerer Gründlichkeit überhaupt und tiefgehend zu erörtern, weil es sich leichter mit dem Volk umgehen lässt.
Kassel: Wenn wir jetzt mal eine Erfahrung nutzen, die Sie als Österreicherin nicht ganz freiwillig ja gemacht haben müssen, zumindest als Zuschauerin, die Erfahrung mit der FPÖ in Ihrem Land. Vor 15 Jahren, ein bisschen mehr, ging das los, als ein gewisser Herr Haider plötzlich diese Partei zu einer großen und in dieser Ausrichtung auch neuen Macht in Österreich machte. Wie sind die beiden anderen Parteien, wie sind die Journalisten damit umgegangen? War das im Nachhinein betrachtet richtig?

Dämonisierungskampagnen sind kontraproduktiv

Frick: Ich glaube, inzwischen wissen alle, dass diese Dämonisierungskampagnen die FPÖ eigentlich stärker gemacht haben und letztlich auch viele Argumente nicht tragen. Wir sehen heute, dass diese Partei sich auch maßgeblich gewandelt hat. Also diese Haider-FPÖ ist nicht mehr vorhanden. Es gibt gewisse Kontinuitäten, aber auch relevante Brüche, und daher ist sie inzwischen in Augen vieler auch regierungsfähig, was vielleicht vor zehn Jahren noch eine große Mehrheit anders gesehen hätte.
Und ich glaube, dass man heute etwas entspannter auch mit diesen Parteien umgehen kann, weil man erkennen musste, dass es einfach nicht reicht zu sagen, alles, was aus einer bestimmten Richtung kommt, egal, um welches Argument es sich handelt, ist schon vergiftet, weil es aus dieser Quelle stammt. Das ist ein Fehlschluss, den wir philosophisch natürlich analysieren können, der in der Praxis aber leider immer noch auftaucht. Vielleicht ist ein gewisser Lernprozess jetzt im Gange. Man würde es sich für die Demokratie wünschen.
Kassel: Gut, nun habe ich aber gerade angesichts des Wahlkampfs, gerade in Österreich, so kurz vor den Nationalratswahlen, das Gefühl, das ist schon ein sehr schmutziger Wahlkampf, und wenn wir sehen, was auch bei der Präsidentenwahl passiert ist vor nicht allzu langer Zeit, ist das eine Folge des anfänglichen Umgangs mit der FPÖ oder ist das etwas, was einfach auch völlig unvermeidbar war?
Frick: Unvermeidbar ist selten etwas in der Politik, aber wir sehen in Österreich, wie schwierig es letztlich und vielleicht wie sinnlos es überhaupt ist, ethische Ansprüche dort einzufordern, wo die Absicherung von Macht das einzige politische Motiv ist. Wir sehen im österreichischen Wahlkampf leider sehr deutlich, wie tief man sinken kann, um alles zu tun, um einen Systemwechsel zu verhindern. Wir haben hier die Kanzlerpartei, die des dirty campaignings überführt wurde, dirty campaigning unter falscher Flagge noch zusätzlich, und dann bei Versuchen der Kindesweglegung und der Vertuschung erwischt wurde. Das sind schon Abgründe, die sehr tief blicken lassen in demokratische Unkultur.
Kassel: Aber sehen Sie diese Unkultur, wenn wir wieder zurückkehren zu dieser Grundfrage oder zu dieser Grundthese, dass vielleicht viele in westlichen Gesellschaften das Streiten ein bisschen verlernt haben, auf die eine oder andere Art und Weise – sehen Sie dieses Problem wirklich nur in der Politik?

Zivilisiertes Streiten will gelernt sein

Frick: Ich sehe es auch bei den Hochschulen, also wenn ich aus meinem eigenen Bereich sprechen darf. Es gab zu meiner Studentenzeit – das ist jetzt schon ein bisschen, aber nicht lange her – stärkere, intensivere, hitzigere öffentliche Kontroversen auch, die an Hochschulen ausgetragen wurden. Da habe ich das Gefühl, das schläft ein bisschen ein. Gerade Hochschulen hätten aber die Ressourcen und auch die Pflicht, hier vorbildhaft zu wirken, denn der Streit unter Wissenschaftlern, unter Peers, ist etwas völlig Normales, der auch zivilisiert und auf Augenhöhe ausgetragen wird. Das sollte man viel stärker auch in die Gesellschaft hineintragen und zeigen, wie man zivilisiert auch uneinig sein kann.
Kassel: Sie dürfen aus Ihrem eigenen Umfeld natürlich sprechen. Dann darf ich jetzt aber auch eine Frage noch dazu stellen: Wie gehen Sie denn selbst damit um, wenn Studentinnen und Studenten bei Ihnen wirklich ganz klar sagen, sie wollen mit bestimmten Ansichten, Meinungen gar nicht konfrontiert werden, weil sie die so grundsätzlich ablehnen, dass sie sie gar nicht diskutieren mögen?
Frick: Man kennt diese Forderungen, sozusagen das Recht auf safe spaces aus dem amerikanischen Kontext. Ich muss sagen, zum Glück in meinem Umfeld ist das noch nicht aufgetreten. Studenten diskutieren gerne und lebhaft, vor allem, wenn man ihnen am Anfang klar macht, es gibt keine Tabus, aber gleichzeitig ist jede Meinung kritisierbar. Es gibt keine natürliche Autorität für Meinungen. Die müssen auch begründet werden. Erst dann, wenn Meinungen kritisiert werden, sind wir auch gezwungen, sie zu hinterfragen und das ist letztlich ein Imperativ der Aufklärung, dass man Meinungen nicht bloß übernimmt oder aus Bequemlichkeit weiterträgt, sondern sich die Mühe macht, sie zu überprüfen und auch zu rechtfertigen. Das ist eine akademische Pflicht und Tugend.
Kassel: Dann können wir nur beide zusammen hoffen, dass es an den Universitäten, zumindest im deutschsprachigen Raum – wir wissen beide, in den USA sieht das teilweise schon anders aus –, dass es so bleibt, wie Sie es gerade gesagt haben und dass es in der Politik vielleicht wieder so wird. Marie-Luisa Frick war das. Sie ist assoziierte Professorin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck, und Sie ist auch Autorin des vor wenigen Wochen erschienen Buches "Zivilisiert streiten: Zur Ethik der politischen Gegnerschaft". Frau Frick, vielen Dank für das Gespräch und noch einen schönen Tag!
Frick: Vielen Dank und schöne Grüße aus Innsbruck! Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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