Philosophie

Was Schlager über unsere Zeit erzählen

Udo Jürgens spielt am 13.6.2003 auf der Bodenseeinsel Mainau am Flügel und singt dazu.
Der Schlagersänger Udo Jürgens bei einem Auftritt auf der Bodenseeinsel Mainau im Jahr 2003 © picture-alliance / dpa / Patrick Seeger
Moderation: Frank Meyer · 20.05.2014
Udo Jürgens fasst in "Ich weiß, was ich will" das große Ideal der romantischen Liebe zusammen, erläutert Wolfgang Buschlinger. Zeitgeist und Kulturprodukte stünden in einem wechselseitigen Zusammenhang, so der Philosoph.
Frank Meyer: Philosophen – die grübeln über Platon und Plotin, über Erkenntnistheorie und Logik, das ist das bekannte Bild. In Köln findet gerade die phil.COLOGNE statt, ein internationales Festival der Philosophie, und da zeigen die Berufsdenker, dass sie sich auch mit ganz anderen Gegenständen beschäftigen. Wolfgang Buschlinger tut das zum Beispiel. Er ist Philosoph und Mathematiker, er hat an den Universitäten in Braunschweig und Gießen unterrichtet und er redet nun bei der phil.COLOGNE über "Schlager, Songs und Sinn". Seien Sie herzlich willkommen, Herr Buschlinger!
Wolfgang Buschlinger: Ja, guten Tag, Herr Meyer!
Meyer: Lassen Sie uns mal gleich praktisch werden: Eins Ihrer Beispiele für den Sinn im Schlager ist ein Lied von Udo Jürgens, "Ich weiß, was ich will". Wir hören da mal ein Stück.
(Ausschnitt Udo Jürgens)
Meyer: "Ich weiß, was ich will" von Udo Jürgens – philosophisches Anschauungsmaterial für den Philosophen Wolfgang Buschlinger beim Festival phil.COLOGNE. Herr Buschlinger, jetzt bin ich gespannt: Welchen Sinn sehen Sie in diesem Schlager?
"Der Zeitgeist imprägniert die kulturellen Produkte"
Buschlinger: Mich interessiert im Grunde genommen folgendes Verhältnis: das Verhältnis nämlich zwischen Zeitgeist – das kann auch mal eine Mode sein, es kann aber auch was Größeres sein, zum Beispiel eine weltanschauliche Prägung, die sich über einige Jahrhunderte im Abendland, also bei uns entwickelt hat, und den kulturellen Produkten im weitesten Sinne. Dazu gehört der Schlager, dazu gehört natürlich auch der Film, das Theater und anderes, was in den Bereich der Kultur fällt. Und da kann man zwei Richtungen feststellen: Die eine ist, dass der Zeitgeist natürlich die kulturellen Produkte irgendwie imprägniert …
Meyer: Dann lassen Sie uns da mal gleich bleiben. Welcher Zeitgeist ist denn für Sie in diesem Schlager aufbewahrt?
Buschlinger: Der Zeitgeist, der dort aufbewahrt ist, ist der Zeitgeist, der mit der romantischen Liebe verbunden ist. Und man sieht dann, dass so ab 1800 ein Ideal ausgeprägt wurde, das man üblicherweise als romantische Liebe bezeichnet.
Meyer: Das kann man ja an vielen Dingen sehen: an der Literatur, an der Briefkultur, auch an der Philosophie. Wie hilft einem jetzt dieser Schlager von Udo Jürgens beim Nachdenken über die romantische Liebe weiter?
Buschlinger: Insofern, als es natürlich nicht sagt, das ist richtig. Sondern dieser Schlager eignet sich deshalb besonders, weil man natürlich eine Liste von Merkmalen aufstellen kann, die erfüllt sein müssen, damit man von romantischer Liebe spricht. Und dieser Schlager hat nun die Eigenschaft, so gut wie alle Merkmale der romantischen Liebe zusammenzufassen. Die andere Richtung, die mir auch genauso wichtig ist – also ich hab mir damals, als ich, ich glaube, 13 oder lassen Sie mich überlegen 15 Jahre alt war, diese Single gekauft. Das ist natürlich so, dass ich damals kein Philosoph war, sondern dass die Wirkung umgekehrt war, dass ich also in einer gewissen Weise sehr stark von dieser Auffassung von romantischer Liebe geprägt bin. Ich könnte auch Beispiele aus dem englischen Raum nehmen, also der entsprechenden Musik meine ich. Und wenn ich das also jetzt höre und mich sehe, dass ich damals so beeinflusst war von dieser Musik, dann verstehe ich mich und andere Leute besser, wenn ich diesen Hintergrund habe, dass dort mir eine Prägung auferlegt wurde durch dieses romantische Liebesideal. Das ist der Gewinn, den ich davon habe.
Meyer: Sie sagten gerade, die Merkmale der romantischen Liebe, die seien in diesem Schlager so schön aufbewahrt. Können Sie uns das mal vor Augen führen, wie da die Merkmale abgearbeitet werden?
Buschlinger: Merkmale sind zum Beispiel, dass der andere für einen persönlich höchst relevant wird, dass die Beziehung, die ich habe, exklusiv ist, dass mit der Liebe Sexualität als symbiotischer Mechanismus verbunden ist, dass ich den anderen komplett berücksichtigen muss. Und der zeigt mir auch sozusagen sein ganzes Dasein in der kompletten Zugänglichkeit. Im Schlager heißt es da, bei Udo Jürgens heißt es: "Und kein Gedanke von uns bleibt ungesagt, nichts wird vertagt" und dergleichen. Ich hab da eine Liste von, sagen wir, zehn, elf so Merkmalen, und jedes dieser Dinge beschreibt er.
Meyer: Funktioniert das jetzt bei ganz, ganz vielen Schlagern? Ich meine, worum geht’s im Schlager, um die romantische Liebe geht’s ja ständig – erfüllen die dann alle diesen Merkmalskatalog so wie Udo Jürgens, so ganz vorbildlich?
"Ein Mittel, um verschiedenste Dinge auszudrücken"
Buschlinger: Nein, nicht alle Schlager erfüllen diese Bedingungen, denn nicht alle Schlager handeln von der romantischen Liebe. Schlager ist ein Mittel, um verschiedenste Dinge auszudrücken oder auch ein Mittel, um damit Geld zu machen, wenn man Adorno im Hinterkopf hat. Man kann damit auch Leute einlullen, man kann damit Spaß haben, man kann ihn veralbern. Es gibt ganz viele Zwecke, die so ein Schlager erfüllen kann. Und natürlich erfüllt nicht jeder den Zweck, die romantische Liebe zu besingen. Und ich glaube auch, es war kein Zweck dieses Liedes von Udo Jürgens, die romantische Liebe zu implementieren oder mich damit zu prägen, sondern das war ein Kollateralereignis, das hat sich so ereignet. Und dafür brauch ich’s.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit dem Philosophen Wolfgang Buschlinger über den tieferen philosophischen Sinn von Schlagern. Wenn wir noch mal bei dem Beispiel bleiben: Der Sinn ist doch da aber in einer sehr schlichten Form verpackt, und ich dachte bisher immer, Philosophen ginge es gerade nicht um Schlichtheit, sondern um Komplexität, Vielschichtigkeit, in einem gewissen Sinne auch um Exaktheit. Ist denn das gewährleistet in so einem Schlager?
Buschlinger: Es geht hier nicht darum, dass ich jetzt meine, dass man dieses Bild der romantischen Liebe affirmieren sollte, also bejahen sollte und suchen sollte und dergleichen mehr. Oder dass es gut sei, auf romantische Art und Weise zu lieben. Der Punkt ist vielmehr, dass der Schlager, so weit er eben so romantisch ist, für die Sinnstiftung des Individuums eine wichtige Rolle spielt, vorausgesetzt, es wurde diesem Schlager in größeren Mengen ausgesetzt. Das ist sozusagen so eine Art von kulturphilosophischem Zugang, wo man dann sieht, wie sich eben auch ja größere weltanschauliche Konzepte, die von mir aus auch mit der Aufklärung und im Anschluss daran ausgebildet wurden, im Individuum niederschlagen. Was anderes kann man davon nicht haben. Es ist das Transparentmachen dieser Wirkungen, um dann zu sehen, erstens, was es mit einem selbst gemacht hat, und natürlich, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, so etwas zu konzeptionalisieren.
Meyer: Also Sie meinen auch, wenn ich Sie richtig verstehe, dass wir alle auch von den Schlagerkulturen, mit denen wir groß werden, dass wir alle von ihnen mit erzogen werden?
"Ich persönlich bevorzuge das Wort Prägung"
Buschlinger: Komplett! Das ist unausweichlich gewesen, und es ist natürlich auch jetzt, sagen wir mal in einer leicht veränderten Zeit, immer noch so, dass es diesen Art von Erziehungscharakter hat. Erziehung, das klingt immer so, als hätte man Absichten – ich persönlich bevorzuge das Wort Prägung und denke dabei nicht ohne hinter Hintergedanken an Konrad Lorenz.
Meyer: Der große Verhaltensbiologe.
Buschlinger: Einen alten Ganter, sage ich gerne, der mit Graugänsen experimentiert hat, die dann hinter ihm hergelaufen sind. Man ist dem ausgesetzt, und man nimmt das Erste, was man kriegt, weil es für einen eben unausweichlich und prägend ist.
Meyer: Und wenn man sich anschaut, wie junge Menschen heute mit Schlagern umgehen, zum Beispiel bei Eurovision-Song-Contest-Partys, dann hat das ja auch starke Momente so einer ironischen Brechung – man feiert das, aber nimmt es gleichzeitig auch überhaupt nicht ernst. Meinen Sie auch, unter solchen Voraussetzungen wird man trotzdem noch von Schlagern und Verwandtem geprägt?
Buschlinger: Also dass man es nicht ernst nimmt, da bin ich so immer unentschieden, ob das denn wirklich stimmt. Tatsache ist, dass da eine ironische Brechung vorliegt. Wenn man nicht mehr davon geprägt wird, dann gibt es anderes, wodurch man geprägt wird. Bei dem letzten Eurovision Song Contest zum Beispiel, da würde ich sagen, da zeichnete sich etwas ab, das sich seit 20 Jahren abzeichnet, dass nämlich im Moment diese Form von Musik auch eine gewisse politische Kultur oder einen politischen Zweck erfüllt und dass dafür Bedingungen gegeben sein müssen, damit das klappt. Zum Beispiel: Conchita Wurst wird empfunden zwar als Kunstfigur – unmöglich, so was sich in die 70er-Jahre hinein vorzustellen –, aber sie hat eine Eigenschaft, die hatte die Teilnehmerin aus San Marino nicht, nämlich sie ist authentisch. Und diese Art von Imprägnierung auf Authentizität hin, die ist auch in diesem Schlager drin, das ist echt, das Anliegen, das die hat.
Meyer: Noch eine Frage, Herr Buschlinger: Nun reden Sie über Schlager, Philosophie, Sinngebung bei einem Philosophie-Festival – das ist natürlich ein besonderer Rahmen –, tun Sie so was eigentlich auch, wenn Sie Studenten an Universitäten unterrichten, oder geht das dann doch nicht in der seriösen Universitätsphilosophie?
"Ein Anwendungsbeispiel in der Gegenwart finden"
Buschlinger: Das geht natürlich auch in der seriösen Universitätsphilosophie, meiner Ansicht nach muss das auch sein. Mein Verständnis von Philosophie: Ich mache Philosophie deshalb, um mich und die Menschen um mich herum in ihren Verhaltensweisen, die auf Konzepten beruhen, besser verstehen zu können. Und das bedeutet dann erstens, ich muss diese Konzepte kennen, also ich muss meine kulturelle Vergangenheit gut kennen, und ich muss dann ein Anwendungsbeispiel in der Gegenwart finden, sonst bin ich nur – also wenn ich das nicht mache, wenn ich es nicht auf die Gegenwart brächte, dann würde ich immer sagen, dann bin ich Verwalter einer, ja, im weitesten Sinne Kulturgeschichte, aber nicht mehr. Und ich denke, man sollte Philosophie so anwenden, dass man sie für die Gegenwart durchsichtig und, das heißt ja dann auch, relevant macht.
Meyer: Der tiefere Sinn des Schlagers, ein Thema beim internationalen Festival der Philosophie in Köln, bei der phil.COLOGNE. Wolfgang Buschlinger wird dort über "Schlager, Songs und Sinn" sprechen, und zwar am Donnerstag um 21 Uhr. Besten Dank für die Aufklärung, Herr Buschlinger!
Buschlinger: Vielen Dank, Herr Meyer!
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