Philosophie des Spazierens

In Gedankenschritten durch die Welt

Eine Urlauberin geht am Mittwoch (04.04.2012) bei Wyk auf Föhr auf einem Deich spazieren.
Spazierengehen lässt Raum zum freien Denken. © dpa / Maurizio Gambarini
Von Jule Hoffmann · 30.07.2017
"Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken", hat der Philosoph Jean-Jacques Rousseau geschrieben. Das ziellose, abschweifende Spazieren kann ein enormes Geflecht von Gedanken begünstigen.
Zum Spazierengehen braucht es nicht mehr als den Entschluss dazu. Ich ziehe meine Schuhe an, mache die Tür auf, laufe die Treppen runter und trete ins Freie. Raus aus den geschlossenen Räumen.
Draußen ist eine andere Luft, ein Wind, vielleicht der Duft von Linden oder Abgase. Und ein anderes Licht, greller Sonnenschein oder schnell vorüberziehende Wolken.
Ich überquere ohne groß nachzudenken den Platz vor meinem Wohnhaus und ehe ich mich versehe, bin ich schon links abgebogen. Das Tempo entscheide ich ganz allein; mal gehe ich zügig, mal schlendere ich, bleibe stehen, schlage Haken, schau mir im Vorübergehen alles an: Straßen, Bäume, Menschen, Autos.
Die Ziellosigkeit ist das Prinzip eines jeden Spaziergangs. Wohin ich gehe und wie lange, steht mir völlig offen. Um die volle Freiheit zu haben, spaziere ich allein. Nur allein kann ich ganz meinen eigenen Impulsen folgen. Ein Gefühl der Leichtigkeit überkommt mich, ähnlich wie wenn man im Frühling das erste Mal ohne Jacke auf die Straße geht. Ich kann jetzt jederzeit tun und lassen, wonach mir ist. Alles anschauen, einen Kaffee trinken, die Straße beobachten, oder einfach nur gehen.
"Das regelmäßige Fuß-vor-Fuß-Setzen bei gleichzeitigem Rudern der Arme, das Ansteigen der Atemfrequenz, die leichte Stimulierung des Pulses, die zur Bestimmung der Richtung und zur Wahrung des Gleichgewichts nötigen Tätigkeiten von Auge und Ohr, das Gefühl der vorüberwehenden Luft auf der Haut – all das sind Geschehnisse, die Körper und Geist auf ganz unwiderstehliche Weise zusammendrängen und die Seele, auch wenn sie noch so verkümmert und lädiert ist, wachsen und sich weiten lassen."
So beschreibt Patrick Süskind in seiner Novelle "Die Taube" die psychophysische Gesamtwirkung eines Spaziergangs. Was eben im stillen Kämmerlein noch groß und wichtig erschien, wird draußen relativiert. Ich sehe andere Menschen, Hunde, Kinder, unzählige Szenen, die sich abspielen, fremde Lebenswelten.

"Schritt für Schritt glätten sich die Wogen"

War ich zu Beginn unentschlossen, in welche Richtung ich gehen soll; war ich vielleicht lustlos, aufgebracht, verwirrt oder unruhig – das Gehen beschwichtigt, Schritt für Schritt glätten sich die Wogen.
"Ja, der Gang scheint eine besondere, Gedanken schaffende, Gefühle wirkende Kraft in sich zu tragen: Er kann Trauer bannen, Leidenschaft mäßigen, Würde geben. Es gibt eine Art, die Füße frohlockend, selbstbewusst und befehlend aufzusetzen, zu der man kein bescheidenes oder niedergeschlagenes Gesicht machen kann. Wie der Fuß den Takt schlägt, müssen die Augen tanzen", schreibt 1897 der Feuilletonist Hermann Bahr.
Eine spezifische Gehbewegung erweist sich als Bedingung einer spezifischen Wahrnehmung. Körperliche und geistige Aktivität gehen beim Spazieren eine eigenartige Konvergenz ein.
"Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken; mein Kopf bewegt sich im Einklang mit meinen Beinen."
Jean-Jacques Rousseau. Jeden Spaziergang begleitet ein Gedankengang, jeden Schritt ein Gedankenschritt. Viele Dichter und Denker zeichnen sich durch eine intensive Beziehung zum Gehen aus, so auch der dänische Philosoph und Großstadtgeher Sören Kierkegaard:
"Ich bin zu meinen besten Gedanken gegangen, und ich kenne keinen Gedanken, der so bedrückend wäre, dass man ihn nicht gehend hinter sich lassen könnte."
Spazierengehen lässt Raum zum freien Denken, verweigert sich jedoch dem Zweck, gezielt Gedanken zu erzeugen. Der Spaziergang bleibt ein Freiraum, eine Flucht, ein Ausbruch aus funktionalen Zusammenhängen. Das ziellose Herumspazieren ist Arbeitsverweigerung, Kurzurlaub, eine Demonstration gegen das Effizienz-Diktat des Kapitalismus.

Kein leichtes Land für Spazierengeher

Spazierend werde ich zur Außenseiterin, zur unbeteiligten Beobachterin. Treffe ich jemand Bekanntes, behaupte ich vielleicht, ich sei auf dem Weg zu einer Verabredung oder zum Einkaufen, um nicht verdächtig zu erscheinen.
"Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen", schreibt Franz Hessel in "Spazieren in Berlin".
Jeder Spaziergang ist einzigartig und wird gefüllt mit Eindrücken aus der Umgebung. Kehre ich zurück, bin ich körperlich und geistig ausgeglichen, aber auch voll beladen mit Gesehenem und Gehörtem, Eindrücken und Erkenntnissen. Das ziellose, assoziative und abschweifende Spazieren kann ein enormes Geflecht von Gedanken auslösen, deren Weg sich nicht zurückverfolgen lässt. Wer sich näher mit dem Spazieren gehen beschäftigt, wird wie Honoré de Balzac in seiner "Theorie des Gehens" ausrufen:
"Ach! Die Fragen stoben nur so auf wie die Heuschrecken. Was für ein wundervolles Thema!"
Nur um im nächsten Moment festzustellen:
"Nachdem ich alles durchschaut hatte, wusste ich nichts und ging!"
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