Philosophie des Reisens (4/4)

Zugfahren: das richtige Tempo finden

05:37 Minuten
Illustration: Die Luftansicht eines roten Zuges, der durch eine grüne Landschaft fährt
Ihre Gleise zerschneiden Raum und Zeit: Wer in die Bahn steigt, überlässt sich ihrem Rhythmus. © imago / fStopImages / Malte Mueller
Von Johanna Tirnthal · 18.08.2019
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Die ersten Eisenbahnen standen für Beschleunigung. Heute gilt das Gegenteil: Wer die Bahn nimmt, entschleunigt. Fortschritt hat immer schon mit dem richtigen Tempo zu tun. Das Zugfahren lehrt uns: Langsamer ist heute schneller.
Es ist Urlaubszeit, ein ICE ist ausgefallen, der Ersatzzug verspätet und sehr voll. Die Fahrgäste drängen sich im Mittelgang. Die Luft steht. Ein rot-weißer Zettel an einer Glaswand weist höflich darauf hin, dass die Klimaanlage defekt sei. "Bitte benutzen Sie einen anderen Wagen", steht da.
Schwitzende Leiber sitzen dicht an dicht. Ich wollte gemütlich arbeiten und nebenbei ganz schnell ans Ziel kommen. Statt der geplanten drei werde ich am Ende sechs Stunden unterwegs gewesen sein – ohne zu wissen, warum und natürlich, ohne darauf Einfluss nehmen zu können. Für viele steht die Bahn heute vor allem für eins: für Verzögerung.

Erste Eisenbahnen: Sinnbild für Beschleunigung und Fortschritt

Ganz anders im 19. Jahrhundert: Als die ersten großen Strecken gebaut werden, ist die Eisenbahn der Inbegriff von Beschleunigung und Fortschritt. Zeitgenossen sprechen von einer Vernichtung von Raum und Zeit. Als 1843 die Bahnlinie Paris-Orléans eröffnet wird, schreibt Heinrich Heine begeistert, bald könne er die Brandung der Nordsee vor seiner Pariser Haustür rauschen hören – so nah rücke alles zusammen.
Die Eisenbahn, die Dampfmaschine auf Rädern, zeigt damals wie kaum eine andere Technologie der Industrialisierung, wozu eine Gesellschaft im positiven Sinn fähig ist: Arbeitsteilung, Vernetzung, Koordination, Fortschritt. Auch wenn die frühe Eisenbahn nur 20 bis 30 Meilen pro Stunde fährt: Das ist immerhin dreimal schneller als die Postkutsche.

Revolutionen als Lokomotiven der Geschichte

Karl Marx schreibt 1850, die Revolutionen seien die Lokomotiven der Geschichte - und erklärt damit die Eisenbahn zum Sinnbild der Gesellschaft, die richtig gelenkt in eine glorreiche Zukunft rast. Dennoch wird die Eisenbahnfahrt zunächst auch als Schock erlebt.
Henrich Heine nennt es ein "unheimliches Grauen", "wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden."

"Eisenbahnkrankheit" – Mensch als Anhängsel der Maschinen

Tatsächlich wird damals manch ein Fahrgast von der sogenannten "Eisenbahnkrankheit" befallen: Zittern, Nervosität, Erschöpfung. Sigmund Freud erkennt später, dass die Auslöser dafür psychisch, nicht physisch sind: zu viele Eindrücke auf einmal und die Erfahrung absoluter Machtlosigkeit gegenüber einer riesigen Maschinerie überfordern die Menschen des 19. Jahrhunderts.
90 Jahre nach Marx' Bild von der Revolution als Lokomotive ergänzt Walter Benjamin: "Aber vielleicht ist es gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des im Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse."

Bahn heute: Notbremse in Zeiten des rasanten Klimawandels

Heute ist es längst nicht mehr die Eisenbahn, deren Tempo uns ängstigt: Im Gegenteil, wenn wir dringend irgendwo ankommen wollen, kann uns das Zugfahren quälend langsam erscheinen. Zugleich sind heute viele Menschen auf der Suche nach der Notbremse im sich ständig beschleunigenden Klimawandel. Hier lehrt die Bahn, sich dem Beschleunigungsimperativ zu entziehen. Wenn ich mich dazu entscheide, mich dem Schneller, Höher, Weiter zu verweigern, verwandelt sich meine Ungeduld im verspäteten ICE in Gelassenheit. In einer Zeit des grenzenlosen Individualismus mit fatalen Folgen für den Planeten hat die gute alte Eisenbahn schon fast etwas Zukünftiges.

Klimaschutz, verbunden mit Entspannung

Denn wo sonst kann man wirksamen Klimaschutz so einfach mit Entspannung verbinden? Aus dem Fenster schauen, die Zügel aus den Händen geben und das Geschehenlassen genießen. "Diese Zeit gehört dir", wirbt die Deutsche Bahn heute, und wir mögen bei der Arbeit am Laptop im verspäteten, überfüllten Zug noch so zynisch darüber lachen – trotz allem blitzt hier ein utopisches Moment auf: Gerade weil die Bahn am Geschwindigkeits-Gebot unserer Tage scheitert, öffnet sie den Blick nach vorn. Hier wird die Beschleunigung in die Schranken gewiesen, und die Zeit und der Blick werden frei für Anderes.
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