Philosophie des Reisens (2/4)

Fliegen – die Grenzen des Menschen übersteigen?

05:52 Minuten
Modernistisch gehaltene Illustration von Menschen in der Wartehalle eines Flughafens, durch dessen Fensterfront man Flugzeuge landen und starten sieht.
Warten am Boden um sich in die Lüfte aufzuschwingen: Die Flugreise steht in der humanistischen Tradition, die eigenen Grenzen zu überschreiten. © imago / fStop Images / Malte Müller
Von Constantin Hühn · 21.07.2019
Audio herunterladen
Fliegen zu können, ist einer der ältesten Träume der Menschheit. In Zeiten von Billig-Airlines ist er längst Routine geworden. Und doch verhandeln wir beim Fliegen, wer der Mensch ist und wer er sein kann – gerade auch in Zeiten des Klimawandels.
Ich steige ins Flugzeug ein. Beim Start drückt mich die Beschleunig in den Sitz und ich spüre mehr denn je die Schwere meines Körpers und der Maschine um mich herum.
Aber schon verlassen die Vorderräder den Boden, in meinem Bauch breitet sich ein Kribbeln aus, und schließlich – heben wir ab! Welch erhebendes Gefühl: Alles Gewicht für einen Moment vergessen, mein Körper eine Zeit lang von den Fesseln der Schwerkraft befreit.
Beim Fliegen lassen wir nicht nur die Erde hinter uns zurück, sondern überschreiten auch die "natürlichen" Grenzen der menschlichen Gattung. Zugleich setzen wir damit eine Aufwärtsbewegung fort, mit der die Menschheit überhaupt erst ihren Anfang nahm: Die unserer Primaten-Vorfahren, als sie sich auf die Hinterbeine erhoben, die Hände frei machten für den Werkzeuggebrauch und im wahrsten Sinne ihre Weitsicht erhöhten.
Kaum aber konnte der Mensch auf zwei Beinen stehen, richtete sich sein Blick zum Himmel und er begann vom Fliegen zu träumen – das legen archäologische Funde und antike Mythen nahe. Das Hoch-hinaus-wollen und -können gehört also selbst zur ‚Natur‘ des Menschen.

Das Überschreiten der Natur

Auch in Bertolt Brechts Vertonung des ersten Atlantikflugs 1927 (durch Charles Lindbergh) wird das Fliegen zum Inbegriff der menschlichen Selbstverbesserung und Naturbeherrschung durch technischen Fortschritt:
"1000 Jahre fiel alles von oben nach unten", heißt es darin. Und später: "Aber wir haben uns erhoben." Hier findet der Mensch zu seiner eigenen "Natur", gerade indem er sich überschreitet.
Immer, wenn wir ein Flugzeug besteigen, haben wir also Teil am humanistischen Ideal der menschlichen Selbstüberschreitung, an der "Vertikalspannung", die für Peter Sloterdijk den menschlichen Selbstverbesserungsdrang auszeichnet.

Zurückgeworfen auf die eigene Leiblichkeit

Nur schade, dass sich das Fliegen in der Praxis heute so gar nicht nach Selbstüberschreitung anfühlt, ganz im Gegenteil. Stundenlanges Anstehen, gestresst durch den Duty-Free-Bereich wie die Herde zur Abrichtung, um schließlich, eingequetscht im Billigflieger, für 20 Euro nach London zu jetten. Und unsere größte Sorge ist die mangelnde Beinfreiheit.
Statt uns zu überschreiten, sind wir zurückgeworfen auf die eigene Leiblichkeit, mit schmerzendem Nacken, gestresst von der Enge – abgefertigt, angenervt, eingesperrt. Und ohnmächtig dem Flugbetrieb und seinen Apparaten ausgeliefert, wie schon Theodor W. Adorno festhielt:
"Kein Schauder: das Bild des Fluges ist stumpf, einfarbig geworden. Nicht einmal der Augenblick, in dem man die Erde verlässt, lässt mit Sicherheit sich angeben. Vielleicht ist er übertönt von dem unmäßigen Tosen der Motoren, die unmittelbar vorher entfesselt werden, und denen man sich ausgeliefert fühlt so ohne alles Verhältnis zum eigenen Körper, dass man sich fügt, ohne recht fürchten zu können."

Von der Beflügelung zur Selbstüberschätzung

Als Passagiere beherrschen wir hier nicht die Technik, sondern unterwerfen uns ihr. Und angesichts der katastrophalen ökologischen Konsequenzen des Fliegens scheint sich hier die Selbstüberschreitung in ihr Gegenteil zu verkehren – und langfristig eher zum Untergang der Menschheit beizutragen.
So steht das Fliegen heute auch für unsere Begrenztheit, Borniertheit, unsere Selbstüberschätzung. Wie Ikarus, der Sohn des Dädalus, der mit künstlichen Flügeln aus der Gefangenschaft floh, fliegen wir übermütig der Sonne, dem Klimawandel entgegen. Und wenn wir nicht bei Zeiten umkehren, drohen auch der menschlichen Gattung die Flügel zu schmelzen.

Verzicht als Chance

Vielleicht brauchen wir also eine andere Art der Selbstüberschreitung: einen anderen Lebenswandel. Brecht abwandelnd: Nicht die Primitivität in der Natur gilt es zu bekämpfen, sondern die im Menschen, in der Gesellschaft.
Und möglicherweise wird sich am Ende der Verzicht als die wahre Selbstüberschreitung herausstellen.
Mehr zum Thema