Philosophie als strenge Wissenschaft

Von Matthias Bertsch · 27.04.2013
Edmund Husserl gilt als Vater der Phänomenologie, viele bekannte Philosophen waren seine Schüler. Doch in Deutschland geriet er in Vergessenheit, die Nationalsozialisten brandmarkten ihn als "nicht-arisch". Husserl starb am 27. April 1938 in Freiburg.
Die akademische Karriere wurde ihm quasi in die Wiege gelegt. Als Edmund Husserl am 8. April 1859 im mährischen Proßnitz als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Tuchhändlers geboren wurde, stand für den Vater fest: Die Firma sollte der Erstgeborene übernehmen, Edmund, der jüngere, sollte aufs Gymnasium. Nach dem Abitur studierte Husserl Astronomie, Physik und Mathematik in Leipzig, Berlin und in Wien. Dort lernte er auch den Philosophen Franz Brentano kennen.

Hans-Helmuth Gander: "Das war der damalige Starphilosoph in Wien. Brentano, der über die Psychologie vom empirischen Standpunkt aus gelesen hat, diese Vorlesungen haben Husserls Konversion zur Philosophie initiiert und gleichzeitig seinen eigenen erkenntnistheoretischen Weg zu einer Phänomenologie des Bewusstseins gebahnt."

Der Logik, die ihn bereits in der Mathematik stark interessiert hatte, blieb Husserl auch in seiner philosophischen Karriere treu, betont der Leiter des Freiburger Husserl-Archivs, Hans-Helmuth Gander.

"Ihm ging es darum, Philosophie als strenge Wissenschaft zu begründen, und das heißt, metaphysische Spekulationen lehnt Husserl ab. Es gibt so das Bonmot: Für die großen Fragen sagt er immer. "Bitte wechseln sie das in philosophisches Kleingeld." Also das, was die Welt im Innersten zusammenhält, das war nicht so Husserls Erkenntnisziel, sondern es ging ihm wirklich darum, Philosophie als strenge Wissenschaft zu begründen."

Im Zentrum seiner Philosophie, der Phänomenologie, stehen die Gegenstände, die "Phänomene", so wie sie uns vor unserem Bewusstsein erscheinen. Doch während die klassische Erkenntnistheorie auf einem Dualismus beruht - hier reines Bewusstsein und dort "bewusstseinsfremdes" oder "bewusstloses" Objekt - lehnt Husserl diesen Gegensatz ab.

"Husserls zentrale Einsicht in die Struktur des menschlichen Bewusstseins fasst er in den Begriff der 'Intentionalität' und meint damit, dass Bewusstsein immer schon Bewusstsein von etwas ist. Das heißt Husserls Entdeckung der Intentionalität zeigt, dass menschliches Bewusstsein nicht anfänglich leer ist, sondern immer schon bezogen auf einen Bewusstseinsinhalt. Wir haben immer Bewusstsein von etwas. Phänomenologie untersucht sozusagen als Erfahrungswissenschaft zugleich die Bedingungen und Weisen unseres Erfahrens."

In Freiburg, wo er seit 1916 lebte und lehrte, entwickelte sich Husserl bald zu einem der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts: Seinen Assistenten Martin Heidegger prägte er ebenso, wie die Soziologen Alfred Schütz und Helmut Plessner oder den Philosophen Jean-Paul Sartre. Der religiöse Glaube war Husserl – wie den meisten Phänomenologen - fremd, auch wenn er als junger Mann nach der Lektüre des Neuen Testaments zum Protestantismus konvertiert war. Doch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten holte ihn seine jüdische Herkunft wieder ein.

"Man muss sich vorstellen: Am 25. Januar 1933 feiert Husserl sein goldenes Doktorjubiläum. Das wird hier von der Universität mit einem Festakt geehrt. Und am 14. April 1933 wird er bereits wegen nichtarischer Abstammung beurlaubt. Und in einem späteren Brief schreibt Husserl, dass das die schlimmste Kränkung seines Lebens überhaupt gewesen sei."

In den folgenden Jahren vereinsamte Husserl zunehmend. Die meisten Kollegen wandten sich von ihm ab. Und als er am 27. April 1938 im Alter von 79 Jahren starb, hatte die Universität seinen Namen bereits aus allen Verzeichnissen tilgen lassen. Veröffentlichen durfte er in Deutschland schon lange nicht mehr.

Ludwig Landgrebe: "Nichts mehr veröffentlichen, das heißt auch, dass der Name in Deutschland nicht mehr genannt werden durfte und dadurch ist er auch in Deutschland vergessen worden. Denn die Schriften waren weiter im Ausland bekannt, aber in Deutschland vergessen. Und dann war ja lange Zeit vergangen, nach dem Krieg waren sie so vergessen, dass die Leute, als ich das erste Mal nach dem Krieg eine Vorlesung über Phänomenologie hielt, sogar den Namen noch nie gehört hatten."

Es ist dem ehemaligen Husserl-Assistenten Ludwig Landgrebe und einigen anderen engen Freunden Husserls zu verdanken, dass der Begründer der Phänomenologie nach dem Krieg auch in Deutschland bald wieder bekannt wurde.

Heute spielt Husserls Ansatz nicht nur in der Soziologie, sondern auch in der Kognitions- und Neurowissenschaft eine wichtige Rolle. Und auch seine Biografie ist nicht vergessen: Erst vor wenigen Tagen, am 22. April, wurde vor der Universität in Freiburg ein Stolperstein verlegt, der an die Vertreibung des jüdisch-stämmigen Philosophen erinnert.