Philosoph Robert Spaemann für obligatorischen Religionsunterricht

Robert Spaemann im Gespräch mit Ulrike Timm · 13.01.2009
Der Philosoph und Katholik Robert Spaemann hat sich für einen informierenden christlichen Religionsunterricht an den Schulen ausgesprochen. "Wir kastrieren uns einfach geistig, wenn wir das geschichtliche Gewordensein unserer Kultur der Vergessenheit anheimgeben", sagte er. Deshalb sollte das Fach obligatorisch sein - im Gegensatz zu der davon zu trennenden Glaubensunterweisung, meint Spaemann.
Ulrike Timm: Wie halten wir es mit der Religion? Die meisten von uns ziemlich lax, sie sind, wenn überhaupt, dann Weihnachtschristen, und in Ostdeutschland etwa sind gerade mal noch acht Prozent der Bevölkerung überhaupt Mitglied einer Kirche. Andererseits, auch der eingefleischteste Atheist wird nicht bestreiten, wie sehr die christliche Religion unsere Kunst, Kultur und Geschichte geformt hat – über Jahrhunderte. Müssen wir nicht wenigstens kennen, was uns geprägt hat? In Berlin streitet die Initiative "Pro Reli" dafür, dass der Religionsunterricht ein Wahlpflichtfach neben dem Schulfach Ethik sein soll. Ethik ist dort nämlich verbindlich, Religion aber nicht. Über Sinn und Unsinn eines Religionsunterrichts spreche ich jetzt mit einem der wichtigsten deutschen Philosophen und Katholiken, mit Robert Spaemann. Schönen guten Tag!

Robert Spaemann: Guten Tag, Frau Timm!

Timm: Herr Spaemann, Sie treten für einen verpflichtenden Religionsunterricht in den Schulen ein. Warum?

Spaemann: Dazu muss ich sagen, dass ich einen Unterschied mache zwischen einem Religionsunterricht, der die Information über die geistigen Grundlagen unserer Kultur betrifft, und einer Einführung in den christlichen Glauben. Dass das heute mit ein und demselben Unterricht gemacht wird, ist wohl einer der Gründe dafür, dass der Religionsunterricht sehr unbefriedigend ist. Aber ich denke, dass die Information über die wichtigste Grundlage unserer Zivilisation einschließlich der Aufklärung ist, dass diese Information wirklich obligatorisch sein sollte. Ich würde auch, wenn ich mit meiner Familie in Nordafrika leben würde, dann würde ich erwarten, dass meine Kinder einen soliden Unterricht über den Koran bekommen, einfach um das Land zu verstehen, in dem sie leben. Und so, denke ich, sollte auch ein solcher Religionsunterricht, der über die intellektuellen Grundlagen unserer Kultur unterrichtet, obligatorisch sein.

Timm: Aber wie wollen Sie denn Informationen und Glauben sauber trennen in einem christlichen Religionsunterricht? Wie unterrichtet man dann zum Beispiel die Erschaffung der Welt? Als Information, als Glaubensgrund, als Mythos oder als Geschichte?

Spaemann: Es ist zunächst einmal notwendig, dass Schüler, zumindest also in höheren Klassen, eine solide Unterrichtung bekommen, erstens über den biblischen Schöpfungsbericht, über die Vorstellungen, die damit verbunden sind, und über die Geschichte der Schöpfungsidee, die sich aus der Bibel herleitet, über die Jahrhunderte hinweg. Das ist die eine Seite der Sache. Und das andere ist der Religionsunterricht, der nun die Frage stellt: Ja, wie ist es denn, was denken denn die Gläubigen nun, wie es sich in Wirklichkeit verhält mit Schöpfung und Natur? Und eine solche christliche Glaubensunterweisung würde sich der Auseinandersetzung stellen und würde die Fundamentalismusfrage diskutieren und die Materialismusfrage. Und ich denke, das kann überhaupt nicht im selben Unterricht geschehen. Ich bin ja für eine Zweiteilung. Der eine sollte vollkommen frei sein für Schüler, die wirklich ernstliches Interesse am Christentum haben oder die Christen sind. Und in diesem Unterricht muss man sich einlassen auf die Voraussetzungen des christlichen Glaubens und muss dann eingeführt werden in diese Denkweise und was das zu bedeuten hat im Zusammenhang mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Das müsste ein völlig freier Unterricht sein, eine Art Katechese in der Schule. Und das andere informiert, denn viele Menschen unterschieben heute den Schöpfungsgläubigen einfach Quatsch, weil sie es überhaupt nicht kennen, weil sie sich überhaupt nicht wirklich damit beschäftigt haben. Das sollte nicht sein.

Timm: Der informierende Religionsunterricht, von dem Sie erzählen, der ist ja in gewisser Weise ein Bestandteil des umstrittenen Ethikunterrichts, den alle Schüler aus weltanschaulich verschiedensten Elternhäusern derzeit gemeinsam besuchen. Sollte man dieses Gespräch, dieses ethische Gespräch über Gleichheit, Gerechtigkeit, Freundschaft, Glück, über Glauben und Lebenssinn denn wieder nach Religionszugehörigkeiten auseinanderdividieren?

Spaemann: Ich würde schon sagen, dass diese Fragen doch in engem Zusammenhang mit der Religion gestellt werden sollen. Natürlich, für nicht religiöse Schüler, deren es ja nun heute sehr viele gibt, und Schüler, die auch gar kein Interesse haben, nun tiefer eingeführt zu werden in die christliche Sicht der Welt, für solche Schüler muss es die Möglichkeit geben, daran nicht teilzunehmen. Aber ich meine, es sollte schon eine Zweiteilung sein. Und der eine sollte streng, mit strengen Anforderungen, und der andere hat diesen mehr lebenskundlichen Charakter. Das hat übrigens zur Folge, wenn der Religionsunterricht das übernimmt, dass die Religionslehrer dann oft überhaupt nicht informieren und dass die Schüler spotten. Ich meine, ich habe das an meinen Kindern erlebt, die sagen, der Lehrer, der macht immer nur, was uns gerade interessiert, er zeigt irgendwelche Filmchen, es wird ewig geredet über Abtreibung, über Euthanasie und über so diese aktuellen Themen, hängt uns schon zum Halse heraus. Das heißt, er verliert an Respektabilität, der Religionsunterricht.

Timm: Herr Spaemann, Ihre ganze Philosophie, die stützt sich wesentlich auf den Gedanken von Gott als unsterblichem Gerücht – so lautet auch ein Buchtitel von Ihnen. Warum ist denn Glauben aus Ihrer Sicht vernünftig?

Spaemann: Ich will vielleicht so sagen: Nietzsche, der nun einer der ersten großen Atheisten war, hat gesagt, dass mit dem Verschwinden der Gottesidee auch die Idee von Wahrheit verschwindet und auch die Idee von einer Würde der menschlichen Person verschwindet. Das eine stützt das andere. Und er sagt, es gibt keinen überindividuellen Sinn, wenn es Gott nicht gibt. Und das heißt dann, das Leben hat keinen Sinn, wir müssen ihm einen geben. Das heißt dann natürlich, wir dürfen auch alles tun. Wenn Gott nicht ist, ist alles erlaubt.

Timm: Aber verknüpft man den Glauben nicht auch schlicht sehr mit Nützlichkeit, wenn man sagt, eine humane Gesellschaft sei ohne Religion schwer möglich?

Spaemann: Ja, also Sie haben vollkommen recht, man muss hier sehr vorsichtig sein. Erstens soll man nicht zu viel behaupten. Es ist zwar tatsächlich so, dass drei atheistische Regime im 20. Jahrhundert die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen haben. Sie gingen alle davon aus, dass den Menschen alles erlaubt ist. Aber die Frage, ob Gott existiert oder nicht, ist natürlich letzten Endes nicht mit einem solchen Argument zu beantworten. Entweder er existiert oder er existiert nicht. Dass er existiert, scheint mir allerdings schwer zu umgehen sein, wenn wir unseren Wahrheitsbegriff ins Auge fassen. Wenn ich einen Satz formuliere, wenn ich zum Beispiel sage, Frau Timm und ich haben dieses Gespräch geführt, dann ist das eine ewige Wahrheit. Noch in Millionen Jahren wird es wahr bleiben, dass dieses Gespräch hier stattgefunden hat. Es ist Unsinn zu sagen, irgendwann ist das mal nicht mehr gewesen.

Timm: Aber ich fragte ja danach, ob man Glauben nicht sehr mit Nützlichkeit verknüpft, wenn man davon ausgeht, eine humane Gesellschaft sei ohne Religion nicht möglich.

Spaemann: Zwar kann man diese Frage stellen, aber wenn wir sagen, der Glaube ist nützlich für die Gesellschaft und sogar notwendig, dann heißt es noch nicht, dass er wahr ist. Gregor Gysi zum Beispiel, der sich als Atheist bezeichnet, sagt, dass er einen Schauder bekommt bei dem Gedanken einer unreligiösen Gesellschaft, weil er sagt, es ist nicht auszudenken, was das für Folgen hat. Deswegen glaubt er aber noch nicht.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem Philosophen und Katholiken Robert Spaemann über die Bedeutung von Religionsunterricht heute. Herr Spaemann, die christliche Religion hat unser kulturelles Fundament gebaut, aber sie baut ja derzeit nicht recht weiter, trotz einer gefühlten Spiritualität, die Kirchenaustritte übersteigen die Eintritte doch bei Weitem. Steht der Religionsunterricht, verbindlicher zumal, wirklich noch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit?

Spaemann: Ja, der Religionsunterricht, zumindest in der Form der Information, also das, was ich gerne obligatorisch sehen möchte, bleibt natürlich. Sie können ja auch sagen, dass also Goethe in unserer Gesellschaft auch keine Rolle spielt und sogar eine viel geringere als der christliche Glaube. Deswegen pflegen wir doch unsere große Tradition, auch die Tradition der Aufklärung, auch wenn die meisten Menschen daran gar nicht partizipieren individuell. Wir kastrieren uns einfach geistig, wenn wir das geschichtliche Geworden-Sein unserer Kultur der Vergessenheit anheimgeben. Das ist die eine Seite der Sache. Und was Sie sagen, dass der christliche Glaube im Augenblick mal in einem Wellental sich befindet, das kann zur Folge haben, dass die Glaubensunterweisung in dem Sinne, von dem ich vorhin sprach, dass die nicht mehr obligatorisch ist.

Timm: Die Fronten in der Berliner "Pro Reli"-Diskussion, die sind ziemlich verhärtet und die wirken bisweilen skurril. Also weder beginnt jenseits des Glaubens die Wüste der Wertelosigkeit, noch sind Kommunionskinder auf Gott gedrillt. So aber bisweilen der Tenor beider Seiten. Liegt die Schärfe dieser Diskussion auch darin begründet, dass es sich um Glaubenssachen handelt?

Spaemann: Die Menschen werden immer scharf, wenn es ihnen um das geht, was sie für wichtig halten. Wenn Sie sehen wollen, worüber Menschen sich die Köpfe einschlagen, dann sehen Sie, was ihnen wichtig ist. Und da möchte ich etwas Provozierendes sagen: Es ist zwar der Religion, insbesondere der christlichen Religion völlig unangemessen, gewalttätig zu sein und beleidigend zu sein, im Gegenteil, der christliche Glaube (Anm. d. Red.: schwer verständlich im Hörprotokoll) verbietet es. Dass dennoch die Menschen die Neigung dazu haben, und zwar nach beiden Seiten, heißt einfach, dass es ihnen noch wichtig ist.

Timm: Sie selbst haben Ihre Kinder vom Religionsunterricht in den 60er-Jahren abgemeldet. Sie und Ihre Familie sind aber gläubige Menschen. Was sagt uns das?

Spaemann: Ja, dass der Religionsunterricht schlecht sein kann und dass es dann besser ist, keinen Religionsunterricht als einen schlechten Religionsunterricht. Woraus ich aber nicht die Folgerung ziehen möchte, rechnen wir nur mit schlechtem Religionsunterricht und melden wir die Kinder ab, sondern machen wir den Religionsunterricht besser.