Philosoph Hans Joas

"Moralische Universalisten aller Länder und Religionen vereinigt euch"

Der Autor Hans Joas im Studio bei Deutschlandfunk Kultur.
Der Autor Hans Joas im Studio bei Deutschlandfunk Kultur. © Deutschlandradio – Laura Lucas
Moderation: Simone Miller · 17.12.2017
Viele glauben, wir leben in einer entzauberten Welt. Der renommierte Soziologe und Religionsphilosoph Hans Joas widerspricht dieser Erzählung. Die Erfahrung des Heiligen sei auch heute noch möglich: Sie sei vergleichbar mit dem Verlieben.
Wenn wir etwas "heilig" nennen, dann beziehen wir uns auf Erfahrungen der Selbstüberschreitung, argumentiert der renommierte Soziologe und Religionsphilosoph Hans Joas. Erfahrungen der tiefen Ergriffenheit könnten auch nicht-religiöse Menschen machen, zum Beispiel in der Begegnung mit anderen Menschen, aber auch mit besonderen Orten und bei kollektiven Ereignissen. Joas vergleicht die Erfahrung des Heiligen mit dem Verlieben:
"Beim Verlieben ist es ja auch so, dass man sich das nicht einfach vornehmen kann. Man kann zwar feststellen, dass man hier ein Bedürfnis hätte, aber dann muss eine reale Begegnung mit einem anderen Menschen passieren. Dann ist das etwas irgendwie Begeisterndes; es reißt einen von sich selber weg. In einer bestimmten Phase zumindest ist dieser andere Mensch einem fast wichtiger, als man sich selber ist. Man kann das auch nicht abstellen. Es ist sehr schwierig – wenn die Liebe nicht erwidert wird – das wieder loszuwerden. Also insofern ist da etwas massiv Ungeplantes dran und es ist emotional ambivalent, weil das Verlieben auch Angst auslöst. Und so muss man sich die Erfahrung vorstellen, die dazu führt, dass Menschen denken, Sie seien einer Kraft begegnet, die stärker ist als sie und sie eben über die Grenzen ihrer selbst hinaus führt. Und die Zuschreibung dieser Kraft, das ist die elementare Dimension dessen, was wir mit der Heiligkeit meinen."
Religionen würden Deutungen dieser Erfahrungen zur Verfügung stellen und praktische Organisationen darstellen, um die Erfahrbarkeit des Heiligen auf Dauer zu stellen.

Geschichte der Entzauberung ist unterkomplex

Die Bedeutung des Heiligen für die Gegenwart stehe dabei in einer Spannung zur Großerzählung von der Moderne als entzauberten Welt. Die Theorie von der Entzauberung geht auf den berühmten Soziologen Max Weber zurück. Joas zufolge ist es aber wichtig zu sehen, dass Entzauberung bereits bei Weber nicht gleichbedeutend mit Säkularisierung sei. Vielmehr beginne Webers Entzauberungsgeschichte bereits bei den Propheten des Alten Testaments. Denn in deren Schriften vollziehe sich die Überwindung des Magischen und damit die Einführung allgemeiner Prinzipien, wie etwa dem der Gerechtigkeit. Das werde aber häufig übersehen und eine stark simplifizierende Aufklärungsgeschichte als Überwindung des irrationalen Glaubens durch die Vernunft erzählt. Dieser verfälschenden Vereinfachung stellt Joas eine differenzierte Religionsgeschichte gegenüber.

Die Erfindung der einen Menschheit in den Religionen

Von fundamentaler Bedeutung für die Lerngeschichte innerhalb der Religionen sei die sogenannte vorchristliche Achsenzeit und die Erfindung der Transzendenz gewesen. Mit der Ansiedlung Gottes im Jenseits sei nämlich die Idee der einen Menschheit entstanden.
"Das Aufkommen der Vorstellung von Transzendenz hängt zusammen mit dem Aufkommen der Vorstellung von der einen Menschheit und von einer Qualität des Menschseins, die von allen Menschen geteilt wird, also nicht nur uns in unserem Staat, unserem Volk, unserer Religionsgemeinschaft zukommt, sondern auch den anderen; sogar denen, mit denen wir verfeindet sind."
Diese universalistische Idee nähre noch heute viele religiöse aber auch säkulare Traditionen, so Joas. Die Verwirklichung eines so enorm anspruchsvollen Ideals könne es dabei allerdings nicht in Reinform geben, argumentiert der Religionsphilosoph weiter. Vielmehr sei sie – und damit auch religiöse Institutionen – immer verstrickt mit Machtverhältnissen und Interessenlagen.

Glaube und Macht

Sakralisierungen würde es außerdem nicht nur in den Religionen geben, sondern auch in säkularen Überzeugungssystemen. Die Menschenrechte etwa könne man als Heiligsprechung der Person auffassen. Aber auch Ideen wie "das Volk", "die Verfassung", "die Revolution" oder"die göttliche Ordnung" würden teils sakralisiert werden.
Wichtig sei deshalb sowohl innerhalb der Religionen, als auch innerhalb säkularer Wertsysteme auf liberale Auslegungen derselben zu dringen. In diesem Sinne könne man sagen: "Moralische Universalisten aller Länder und Religionen vereinigt euch."
Denn Frontverläufe zwischen verschiedenen Auslegungen gebe es innerhalb aller Glaubens- und Überzeugungsgebäude. Es sei deshalb irreführend, "wenn manche Säkularen meinen, es gebe nur den säkularen moralischen Universalismus und sie müssten Religion bekämpfen, um dem moralischen Universalismus zum Sieg zu verhelfen."
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