Philosoph Christoph Quarch über den Wald

„Wir brauchen die Beziehung zur wilden Natur“

38:26 Minuten
Blick auf eine Frau mit roter Mütze auf einer vom tief stehenden Sonnenlicht durchfluteten Waldwiese.
Rotkäppchens Reich: Als Wälder noch keine Holzplantagen waren, boten sie Platz für Mythen und Legenden, sagt Christoph Quarch. Doch dann kam die Lichtung. © imago images / Westend61
Moderation: Christian Möller · 25.08.2019
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Brände und Rodungen in Brasilien, Streit im Hambacher Forst: Wälder sind weltweit umkämpft. Wir müssen unser Verhältnis zur Natur neu denken, sagt der Philosoph Christoph Quarch. Nur so sei der Lebens- und Erfahrungsraum Wald zu retten.
Der Wald ist für viele Stadtmenschen ein willkommener Rückzugs- und Erholungsort: ein Platz, an dem der Körper zur Ruhe kommt und die Sinne angeregt werden von Geräuschen, Gerüchen und Rhythmen, die uns im urbanen Alltag kaum erreichen. Auch der Philosoph und Schriftsteller Christoph Quarch ist gern von Bäumen umgeben:
"Im Wald kommen mir die besten Ideen. Es ist ein lebendiges Umfeld, das mir immer wieder gute Einfälle schenkt."

Eine Lichtung im Wald der Giganten

Christoph Quarch leitet regelmäßig philosophische Waldwanderungen. Für ihn ist der Wald ein Ort, der zur Naturerfahrung einlädt aber gleichzeitig voller kultureller Prägungen steckt: "Die Kulturgeschichte der Menschheit lässt sich lesen als eine immer neue Verhältnisbestimmung zwischen Lichtung und Wald", sagt Quarch.
Der Philosoph Giambattista Vico habe schon um 1730 einen Gründungsmythos der Zivilisation verfasst, der mitten im Wald beginnt. Vico erzähle von einem Volk der Giganten, die ursprünglich wie Tiere in der ungezähmten Natur herumstreifen, aber eines Tages, aufgeschreckt durch ein Gewitter, eine Lichtung in den Wald schlagen.
Dieser neue, offene Ort mit Blick in den Himmel symbolisiere die Keimzelle jeder menschlichen Gesellschaft, so Quarch. Bis heute präge der Gegensatz von Wald und Lichtung, von Wildnis und kultivierter Landschaft unsere Beziehung zur Natur.
Der Philosoph Christoph Quarch an eine Backstein-Mauer gelehnt im Ganzkörperporträt.
Aus enger Städte Mauern hinaus in den Wald: Christoph Quarch zieht es in die Natur.© Ulrich Mayer
Noch bis weit in die frühe Neuzeit hinein seien Menschen auch in Europa von Wäldern umgeben gewesen, gibt Christoph Quarch zu bedenken. Die Erfahrung, auf Lichtungen zu leben, die der Natur abgetrotzt worden waren, war für sie selbstverständlich. "Der Wald, die ursprüngliche Heimat, wurde so zu einem unheimlichen Ort" sagt Quarch, "zur Gegenwelt, aus der man sich entfernt hatte und von der man sich mit jedem Tag, den man sich auf der Lichtung einrichtete, immer mehr entfernte."

Preis der Aufklärung: ein Wald ohne Geister

Die Dichter der Romantik haben diese zunehmende Distanz zum Wald als Verlust beschrieben. Der zunehmend von der Holzwirtschaft genutzte Wald, "hörte auf, ein Ort zu sein, an dem die Märchen spielen, an dem man unheimliche Waldgeister oder Gottheiten treffen kann", so Quarch. Diese Geister habe die Philosophie der Aufklärung dem Wald allmählich ausgetrieben. In einem reinen Nutzwald blieb für Rotkäppchen kein Platz.
Die "jungen wilden Denker des deutschen Idealismus" suchten nach einem Ausweg aus dieser "Überrationalisierung", sagt Christoph Quarch. In ihrem Geist habe noch der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau nach einem neuen Fundament gesucht, auf dem "das Potenzial von Lebendigkeit, das in uns angelegt ist, wirklich zur Entfaltung" kommen könne.
"Und dieses Fundament sucht er in der Natur – und zwar in einer nicht menschlich überformten Natur, sondern in der Wildnis."

Der Klimawandel zwingt zum Umdenken

Dass wirklich unberührte Wildnis heute kaum noch zu finden ist, da Wälder weltweit bewirtschaftet werden und insgesamt rapide schrumpfen, ist Christoph Quarch wohl bewusst. Das Verhältnis von Wald und Lichtung habe sich längst umgekehrt:
"Ich glaube, es sind nur noch knapp 20 Prozent der Weltlandfläche überhaupt als Wildnis deklariert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es noch knapp 80 Prozent."
Umso wichtiger sei es, unser Verhältnis zum Wald grundsätzlich zu überdenken, sagt Quarch:
"Mit dem drohenden Klimawandel als Horizont unseres Handels tut es dringend not, ein geistiges Paradigma zu entwickeln, das uns diese Rückbeziehung zur Natur auf eine neue Weise möglich macht."
Ein Satz aus dem Roman "Lady Chatterley’s Lover" von D. H. Lawrence bringt es für ihn auf den Punkt: "Wir müssen uns aufs Neue ins Universum pflanzen."
"Das scheint mir ein Imperativ zu sein", sagt Christoph Quarch, "der für die Philosophie und dann natürlich auch für die Politik und die Ökonomie der Zukunft richtungsweisend ist."
(fka)

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