Philosemitismus

Eine Liebe, die blind macht

04:37 Minuten
Historischer Stadtplan an der Kölner Synagoge.
"Philosemiten sind Antisemiten, die die Juden lieben", zitiert Autor David Ranan den jüdischen Parodisten Robert Neumann. © dpa / Jörg Carstensen
Überlegungen von David Ranan · 01.12.2020
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"Schalömchen Köln": Mit einer speziell gestalteten Straßenbahn will die Stadt Köln ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen. Der israelisch-britisch-deutsche Autor David Ranan hat jedoch Zweifel, ob ein solcher Akt von "Philosemitismus" ein gutes Signal ist.
Einige von Ihnen kennen sicherlich die ikonische Verfilmung des Stücks von Tennessee Williams mit Marlon Brando und Vivien Leigh, das in Deutschland als "Endstation Sehnsucht" vermarktet wurde. Im Original hieß es jedoch "A Streetcar named Desire" – ins Deutsche übersetzt: eine Straßenbahn namens Verlangen.
Ich musste daran denken, als ich in der Zeitung las, dass die Stadt Köln mittels einer mit großem Davidstern bemalten und mit "schalömchen – eine deutsche Verniedlichung des hebräischen Wortes schalom – beschrifteten Straßenbahn behauptet, ein Zeichen für Demokratie und gegen Antisemitismus zu setzen.
Kölns Oberbürgermeisterin erklärte, "sie ist ein Bekenntnis zu unserem jüdischen Erbe. Diese Bahn macht deutlich: Köln ist ohne seine siebzehnhundert Jahre alte jüdische Gemeinde undenkbar."
Na bitte. Wie viele Kölner die Meinung ihrer OB teilen, die Stadt wäre ohne die jüdische Gemeinde undenkbar, weiß ich nicht. Aber wie bei Tennessee Williams scheint auch hier die Sehnsucht, das Verlangen durch. Die Sehnsucht nach einer vermeintlichen Normalität, in der wir Deutsche "die" Juden lieben. Wenn wir nur "schalömchen" auf unsere Straßenbahnen malen und alle auf Klezmermusik-Veranstaltungen gehen, soll alles wieder gut werden.
Philosemitismus, die unkritische Liebe zu Juden, nur weil sie Juden sind, unabhängig von ihrer Persönlichkeit, Moral oder Handlung, ist nicht nur ein deutsches Phänomen: Trumps USA bieten es sogar als Exportware an: Nachdem der US-amerikanische Antisemitismusbeauftragte sein Land als das philosemitischste Land der Welt deklarierte, erklärte er, philosemitische Narrative auch in anderen Ländern zu entwickeln und voranzutreiben.

Ist Philosemitismus wirklich die richtige Antwort?

Deutschland ist verständlicherweise besonders sensibel für alles, was mit Juden verbunden ist, und reagiert empfindlich darauf wenn ein zunehmender Antisemitismus immer wahrnehmbarer wird.
Einige sind daher überzeugt, dass Philosemitismus die passende Antwort auf Antisemitismus sei. Dieser Philosemitismus bezieht meist auch den jüdischen Staat Israel ein und die besonders aktiven Philosemiten sind oft von Israel oder jüdischen Themen besessen. Was wir dann erleben, ist eine zuweilen bis zur Absurdität geratenen Vergangenheitsbewältigung.
Die "Schalömchen"-Bahn ist so ein Auswuchs des hierzulande existenten Philosemitismus. Nun wäre eine grenzenlose, unbegründete, wenn auch teils lächerliche Liebe nicht notwendigerweise ein Problem. Und im großen Bild stellt sich die Frage, warum sollte man sich ernsthaft daran stören?
Auf den ersten Blick gibt es keinen Grund, und doch führt die philosemitische, positiv gedachte Besessenheit, die in ihrem zwanghaften Enthusiasmus dem antisemitischen Fanatismus nicht unähnlich ist, zu einer anomalen und schädlichen Agitation und politischen Aktivität. Es gibt keinen Grund, Juden mehr als Nicht-Juden zu lieben.

Blind für israelische Menschenrechtsverletzungen

Wenn der Philosemitismus einen solchen Schutzschild über Juden und jüdisches Leben bildet, dass dieses immer mehr in ein wohlwollend gemeintes Getto eingeschlossen wird, dann schadet dies eher, als dass es nützt.
Wenn der Philosemitismus einen blind macht für israelische Ungerechtigkeiten oder Menschenrechtsverletzungen, dann ist er eher böse als gut. In Deutschland führt der israelbezogene Philosemitismus de facto zu einer Unterstützung von Israels Besatzungspolitik, der Besiedlung palästinensischer Gebiete und der Unterdrückung ihrer Bevölkerung. Jeder Bundestagsabgeordnete muss sich darüber im Klaren sein.
Beim Versuch, mit Philosemitismus Antisemitismus zu bekämpfen, lohnt es sich an den Spruch des jüdischen Parodisten Robert Neumann zu erinnern: "Philosemiten sind Antisemiten, die die Juden lieben."

David Ranan ist ein israelisch-britisch-deutscher Politikwissenschaftler und Autor. Zuletzt erschien von ihm "Muslimischer Antisemitismus: Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland?". Ende 2020 erscheint sein nächstes Buch, das sich mit politischer Terminologie und ihrer Manipulation beschäftigt.

© Adi Halperin
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