Phillis Wheatley und die afroamerikanische Lyrik

No more, America

29:52 Minuten
Die Radierung zeigt die Dichterin Phillis Wheatley im Alter von etwa 20 Jahren.
Phillis Wheatley wurde um 1753 in Westafrika geboren und starb 1781 in Boston. Sie gilt als die erste schwarze Autorin der USA. © picture alliance / Heritage Images
Von Nora Sobich · 19.08.2022
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Erst 19 Jahre war Phillis Wheatley, als 1772 ihr Gedichtband mit dem Titel "Poems on Various Subjects" in den USA erschien. Er löste eine literarische Sensation aus, zumal Wheatley zu diesem Zeitpunkt noch versklavt war.
Als der Band erschien, sprach gleichsam alles gegen die Autorin: ihr Alter, die Hautfarbe, Status und Geschlecht.
Hierzulande ist ihr Name unbekannt, aber in den USA gilt Wheatley als die erste schwarze Autorin der USA und als eine der ersten, die Rassismus und Unterdrückung die Stirn geboten haben. Ihr Leben und Werk inspirieren bis heute afroamerikanische Dichterinnen und Dichter wie Amanda Gorman oder Kevin Young.

Auf der Shortlist der Weltliteraten

Als die inoffizielle Nationaldichterin der entstehenden neuen US-Nation bezeichnet sie Vincent Carretta, der Herausgeber ihres schmalen Gesamtwerks: 49 Gedichte und kaum mehr als zwei Dutzend erhaltene Briefe aus ihrer ausgiebigen Korrespondenz.
Barack Obama mahnte 2016 zur Eröffnung des Smithsonian National Museum of African American History and Culture in Washington D.C.: "Ich möchte, dass meine Töchter die Gedichte Phillis Wheatleys lesen."
"Für mich steht sie auf der Shortlist der Weltliteraten", sagt Nate Marshall, Professor, Dichter, Rapper und Filmemacher aus Chicago: "Sicherlich wegen ihres Einflusses auf dieses Land. Aber auch wegen ihres bewegten, wenn auch kurzen Lebens und wegen ihrer schriftstellerischen Biografie."
Der Dichter und Essayist Kevin Young, seit Anfang 2021 Direktor des Smithsonian National Museum of African American History and Culture, stellt Phillis Wheatley an den Anfang seiner über 1000-seitigen Anthologie "African American Poetry – 250 years of Struggle and Song".
Und die Dichterin und Professorin Honorée Fanonne Jeffers, deren Wheatley-Hommage "The Age of Phillis" 2021 auf der Longlist des National Book Awards stand, meint: "Literatur ohne Phillis Wheatley ist nicht vorstellbar. Sie ist die Mutter der afroamerikanischen Literatur. Es gab auch andere, die bereits schrieben. Aber sie ist das Symbol."
Phillis Wheatley, so Jeffers, wurde eine große Last aufgebürdet. Als intellektuelles Wunderkind sollte sie mit ihrer Dichtkunst die Würde ihrer Leute, der "black humanity", verteidigen und einer weißen Welt den sogenannten "Gleichstellungsbeweis" vorführen: Auch Schwarze können denken und dichten, sind Menschen und keine versklavbaren "Objekte".

Vom Sklavenmädchen zur Dichterin

Auf einem Sklavenschiff traf Wheatley mit sieben Jahren 1761 in Boston ein. Sie war in der Hochphase des transatlantischen Sklavenhandels aus Senegal, Westafrika, in die neuenglische Kolonie verschleppt worden. Die wohlhabende Bostoner Kaufmannsfamilie Wheatley, fromme Christen, erwarb das schwarze Sklavenmädchen und taufte es auf den Namen des Schiffs, das sie verschleppt hatte, Phillis Wheatley.
Die Dichterin Honorée Fanonne Jeffers verbrachte 15 Jahre mit ihrer Arbeit an "The Age of Phillis", eine biografische und archivarische Spurensuche, in der Jeffers Recherche, kurze Essays und eigene, vom Leben Wheatleys inspirierte Dichtung vereint. Jeffers vermutet, dass Phillis in Senegal zu den Wolof sprechenden Muslimen gehörte, und dass sie bei ihrer Ankunft bereits schreiben und lesen konnte: auf Arabisch.
Von ihren "Besitzern", Anhänger der protestantischen Erweckungsbewegung, die sich missionarisch auch für Schwarze und versklavte Menschen einsetzten, wurde sie jedenfalls gefördert: ob aus religiösen oder gesellschaftlichen Gründen, ist ungewiss. In der neuenglischen Kolonie war das nicht verboten wie später in den Südstaaten, aber alles andere als üblich.
In wenigen Monaten lernt Phillis die fremde Sprache Englisch; sie kann an der humanistischen Ausbildung der beiden Wheatley-Kinder teilnehmen, lernt Latein und verschlingt, wie ihre "Besitzer" stolz in einer Art Vorwort zu ihrem Gedichtband vermerkten, Theologie, Astrologie und die gesamte westliche Geistesgeschichte.

Reise nach London

In den gehobenen Zirkeln von Boston, wo jeder zweite Haushalt Sklaven hielt, trägt Wheatley als Elfjährige, bestaunt und begafft, ihre ersten Gedichte vor. Die größten Erfolge hat sie mit Elegien, die trafen den sentimentalen Nerv der Neuenglandkolonie.
Der Dichter Nate Marshall erzählt: "Sie wurde eine Art Berühmtheit. Kein Geringerer als Thomas Jefferson nahm es auf sich, sie zu kritisieren."
Der Aufklärer Voltaire schrieb aus Frankreich: Ihre "in sehr feinem Englisch verfassten Verse" widerlegen den Glauben, "es gäbe keine schwarzen Dichter".
Für Wheatley änderte sich ihre rechtliche, soziale und politische Stellung allerdings erst mit ihrer Reise nach London, die sie gemeinsam mit dem Sohn ihrer "Besitzer" 1773 unternahm, um das Erscheinen ihres Gedichtbands zu promoten. In Amerika hatte sich anfangs kein Verleger gefunden.
Warum die Dichterin aus England wieder abreiste, obwohl seit der sogenannten Mansfield Entscheidung von 1772 kein versklavter Mensch zur Rückkehr nach Amerika gezwungen werden konnte, ist nicht bekannt.
Von ihrer Besitzerfamilie wurde sie wohl erst 1774 in die Freiheit entlassen. Das Leben, das dann folgte, war für sie allerdings keine Befreiung.
Im Vorwort ihres Gedichtbands "Poems on Various Subjects" musste ein sogenannter Authentizitätsnachweis abgedruckt werden, der den Vorwurf, sie sei eine "uncultivated Barbarian from Africa", widerlegte. Was Phillis Wheatley, die bis dahin bereits mit sämtlichen Größen der US-amerikanischen Gründungsphase – von Benjamin Franklin bis Thomas Paine – korrespondiert hatte, von diesem Test-Zirkus hielt?

Als Kuriosität behandelt

In ihrer Ode "An Maecenas" zu Beginn der insgesamt 39 Gedichte unter dem Titel "Poems on Various Subjects" stellt sie sich dem römischen Dichter Terenz an die Seite, einem ehemaligen Sklaven aus Nordafrika, und fordert selbstbewusst ihren Platz im literarischen Weltkanon ein: "Aber sagt, Musen, warum denn so knapp bemessen die Ehre, nur für diesen einen einzigen der zobel-schwarzen Rasse Afrikas."
Ein Beispiel dafür, wogegen sie anzukämpfen hatte, lieferte ausgerechnet der zelebrierte Aufklärer und Verfasser der geheiligten amerikanischen Unabhängigkeitserklärung Thomas Jefferson. Der ließ an ihrer Dichtung kein gutes Haar, wie Honorée Fanonne Jeffers meint: "In seinen Betrachtungen über den Staat Virginia hat Jefferson sehr garstige Sachen über Phillis Wheatley gesagt, überhaupt über schwarze Frauen. Er unterstellt, sie hätten Geschlechtsverkehr mit Orang-Utans. Phillis Wheatleys Werk hielt er für kritikunwürdig."
In ihren Versen meinte Jefferson bloße Sprachmusik ohne Bedeutung zu erkennen. Aus kolonialer Sicht hatten Schwarze keine Sprache, keine Namen, keine Kultur, Herkunft und Geschichte: Jede Individualität wurde Afroamerikanern abgesprochen.
Das Buch "Poems on Various Subjects, Religious and Moral" von 1773 zeigt ein Frontispiz der 20-jährigen Autorin Phillis Wheatley.
Das aufgeschlagene Buch "Poems on Various Subjects Religious and Moral" von 1773 zeigt links seine Autorin Phillis Wheatley© picture alliance / Heritage Art / Heritage Images
Nate Marshall sagt dazu: "Unter den vielen Verletzungen, die Phillis Wheatley zugefügt wurden, war vielleicht die größte, sie als eine Art Symbol oder Kuriosität zu behandeln: als ein Objekt, das befreit werden konnte. Als ein Ding. In vielerlei Hinsicht eine der niederträchtigsten Verletzungen, über die wir allerdings kaum sprechen, wenn wir über das Erbe von Versklavung, Kolonialismus und Ausbeutung reden."

Dichtung als Waffe

Auch die Lyrikerin Amanda Gorman, die Phillis Wheatley als eines ihrer Vorbilder nennt, bezieht sich auf das US-amerikanische Erbe der Gewalt. Ähnlich selbstbewusst wie damals Wheatley hält Gorman die nationalen Gründungsideale hoch.
In ihrem Gedicht "The Hill we Climb" – "Den Hügel hinauf", mit dem sie bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden die Welt verzauberte, heißt es: "A nation that isn’t broken, but simply unfinished." ("Eine Nation, die nicht zerbrochen ist, nur unvollendet.")
Was es als junge schwarze Dichterin auch heute noch im 21. Jahrhundert heißt, die Stimme zu erheben, warf Amanda Gorman in einem Tweet heraus: "Wenn immer ich mich unfähig fühle zu schreiben, erinnere ich mich der seichten Verachtung, mit der sich Thomas Jefferson die Poetin Phillis Wheatley vornahm."
"Poetry is a weapon", sagt Amanda Gorman, "eine Waffe, ein Instrument sozialer Veränderung, eine der politischsten Künste, die es gibt."
Was die politische Bewegung "Black Lives Matter" jetzt einfordert, hatte Wheatley bereits vor 200 Jahren formuliert: Wahre Gleichheit sei nur möglich, wenn jedes Leben gleich gelte und auch gleich geschützt sei.
Sich gegen Diskriminierung und gegen die Annahme der Unterlegenheit behaupten zu müssen, hat die afroamerikanische Literatur wie ein Schatten begleitet. Möglicherweise einer der Gründe dafür, dass im US-amerikanischen Kanon bei Phillis Wheatley noch immer eine große Lücke klafft.
Nate Marshall sagt dazu: "Es gibt eine Reihe von Gründen dafür. Einer wäre, dass wir glauben, es handele sich nicht wirklich um Literatur. Das ist seit jeher die Frage bei schwarzen Schriftstellern. Sie werden zu einer Art Kuriosität, zu einer momentanen Faszination, nicht aber mit dem literarischen Respekt behandelt, den wir anderen entgegenbringen würden."

"Für die Weißen zu schwarz, für die Schwarzen zu weiß"

"Unbounded imagination", freie Fantasie: Das, was Thomas Jefferson Phillis Wheatley stellvertretend für ganz Afrika abzusprechen versuchte, beflügele jetzt eine Renaissance der Black Poetry, so der Dichter Kevin Young.
Seiner Anthologie "African American Poetry – 250 years of Struggle and Song" hat er programmatisch die berühmte Zeile der Dichterin und Aktivistin June Jordan vorangestellt: "Das unfassbare Wunder afroamerikanischer Dichtung ist, wir halten durch, ob publiziert oder nicht publiziert, ob geliebt oder nicht geliebt, wir halten durch – "we persist"."
Für die Anti-Sklaverei-Bewegung, die nach der Unabhängigkeitserklärung entstand, war Wheatley noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts einer der wichtigsten Beweise dafür, dass Schwarze, die Zugang zu Bildung haben, nicht weniger klug als Weiße sind. Dann allerdings geriet Phillis Wheatley mit ihrer anspruchsvollen Dichtung, die an eine weiße Gründerväter-Elite adressiert war, zwischen die Fronten, so der Literaturwissenschaftler Henry-Louis Gates Jr., Geschichtswissenschaftler und die US-Koryphäe der African American Studies: "Für die Weißen des 19. Jahrhunderts war sie zu schwarz, für die Schwarzen des 20. Jahrhunderts zu weiß."
In der Black Community wurde Wheatley zum Teil als kontroverse Figur gesehen, als eine, die ihre Seele verkauft hatte, als ein Opfer weißer Indoktrinierung, der es am Bewusstsein für Rassenproblematik ("race consciousness") fehlte.
Der Literaturwissenschaftler Henry-Louis Gates, der in den letzten 30 Jahren wie kaum ein anderer zur Wiederentdeckung von Wheatley beigetragen hat, vergleicht die Rolle, die sie als schwarze Autorin einzunehmen hatte, mit der einer Art literarischen Hochstaplerin. Sie musste sich, so Gates, "den formalen und inhaltlichen Formen des Diskurses anpassen", um veröffentlicht zu werden. "Signifying" nennt Gates die kreative Taktik, am herrschenden Diskurs vorbei versteckte Bilder und Botschaften in die Texte einzubauen.

Lobeshymne auf George Washington

Als ein Beispiel dafür wird ihre schmeichelnde Lobeshymne "An seine Exzellenz George Washington" gesehen. Der "Vater der Nation", der auf seiner Virginia-Plantage 120 versklavte Menschen hielt und rachsüchtig jeden Entlaufenen verfolgen ließ, hatte ihr sogar darauf geantwortet:
"Miss Phillis, ... wie unverdient ich ihres Lobes und ihrer Huldigung auch sein mag, der Stil und die Art und Weise liefern einen eindrucksvollen Beweis Ihres großen poetischen Talents."
Es sei eine typische Lobeshymne, sagt Nate Marshall. Aber er liebe es, wie sie den Widerspruch benenne, der die US-Nation bis heute verfolge: Dass die demokratische Republik, die am 4. Juli 1776 unter der Fahne der individuellen Freiheit gegründet wurde, eine Sklavenhaltergesellschaft war.
In der Argumentation von Henry-Louis Gates sind es solche Korrespondenzen und Wheatleys schmeichelnd codierte Gedichtzeilen, die ihr später vorgeworfen wurden. Für ihn unterschieden sich die Künstler der Black Arts Movement in den 1960er- und 70er-Jahren in ihrer Voreingenommenheit kaum von Thomas Jefferson.
Befreiung und geistige Heimat erlebte Wheatley wohl in den antiken Mythen, auf die sie in ihrem Werk immer wieder Bezug nimmt.
Ihre eigene Lebensgeschichte scheint der griechischen Mythologie entsprungen. Vieles ist allerdings vergessen. Sogar ihr Grab ist unbekannt. Man weiß nur, dass sie im Alter von 31 Jahren gänzlich verarmt in Boston verstarb.

Ihrer Zeit weit voraus

Kein Ort, um sich vor ihr zu verneigen, Blumen zu legen, sagt die Dichterin und Professorin Drea Brown.
"Es tun sich so viele Fragmente und Lücken auf. Als sie schließlich ihre Freiheit erhielt, hat sie kaum noch publizieren können. Der Aufregung über das versklavte Wunderkind folgte die Stummschaltung einer freien schwarzen Frau."
"America's first black poet", vom schwarzen Amerika verehrt als eine erste Freiheitskämpferin, als eine, die Rassismus und Unterdrückung die Stirn geboten und es bis ganz nach oben geschafft hat; dem weißen Amerika dagegen ist sie weitgehend unbekannt, bis heute.
Ignoriert als die zentrale Dichterin der US-amerikanischen Gründungsphase, die mit ihrer Sprachfertigkeit und ihrem Intellekt überhaupt erst ein wenig literarisches Weltniveau in die damals geistig noch provinzielle Nordamerika-Kolonie gebracht hat, die als absoluter "underdog" mutig ihre Stimme gegen die Verletzung der Menschenrechte erhob.
(DW)
Es handelt sich um eine Wiederholung vom 27.8.2021.

Mitwirkende: Martin Engler, Bettina Kurth, Anika Mauer
Regie: Stefanie Lazai
Ton: Jan Fraune
Redaktion: Dorothea Westphal

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