Philip Grönings neuer Film "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot"

Wenn eine symbiotische Zwillingsbeziehung zu Ende geht

Die Tankstelle ist für Elena (Julia Zange) und Robert (Josef Mattes) der einzige Kontakt zur Außenwelt.
Für Elena (Julia Zange) und Robert (Josef Mattes) geht eine fundamentale, gemeinsame Zeit zu Ende, sagt Regisseur Gröning. © W-film / Philip Gröning Filmproduktion
Philip Gröning im Gespräch mit Susanne Burg · 17.11.2018
Es ist Sommer, die Zwillinge Robert und Elena bereiten sich aufs Abitur vor und auf ihren Abschied. Das Ende der Kindheit bedeutet für die beiden auch, sich aus ihrer symbiotischen Beziehung zu befreien, erklärt Regisseur Philip Gröning.
Susanne Burg: "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot", so heißt der neue Film von Philip Gröning. Er spielt an zwei Sommertagen auf dem Land. An einem Wochenende, an dem die Zwillinge Robert und Elena im Gras liegen, in den Himmel schauen, sich Getränke von der nahe gelegenen Tankstelle holen und sich auf Elenas Abiturarbeit in Philosophie vorbereiten.
Mit seinen beiden vorherigen Filmen "Die Große Stille" und "Die Frau des Polizisten" war Philip Gröning beim Filmfestival in Venedig. "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" lief im Februar bei der Berlinale im Wettbewerb und kommt jetzt ins Kino. Und ich freue mich, Philip Gröning hier im Studio begrüßen zu können. Guten Tag!
Philip Gröning: Hallo und danke für die Einladung!
Burg: Diese 48 Stunden, die Sie da erzählen, sind ja auch irgendwie besondere. Es ist Sommer, in dem sich manchmal ja die Tage endlos dehnen, aber für Elena und Robert ist es auch so eine Zeit des Erwachsenwerdens, die Zeit vorm Abitur und der Frage, was passiert danach. Aus Ihrer Sicht: Was ist das für eine Zeit für die beiden?

Das Ende der Kindheit

Gröning: Na ja, das ist sozusagen eine Trennungszeit. Sie sind ja Zwillinge, und Elena macht jetzt das Abitur und Robert nicht, und diese gemeinsame Kindheit, die ja bei Zwillingen besonders eng ist, geht zu Ende. Und damit geht eine ganz fundamentale gemeinsame Zeit zu Ende, und die müssen, indem sie diese Trennung vollziehen, erst mal sozusagen zurückwandern in ihre Kindheit, und gleichzeitig denken sie die ganze Zeit über das Wesen der Zeit nach. Das ist, was passiert.
Burg: Dieses Verhältnis, was die beiden haben, was Sie ja beleuchten, ist ein inniges, wie Sie beschreiben, sie lieben sich, aber es ist auch sehr viel Spannung zwischen den beiden. Was haben die eigentlich für ein Verhältnis und warum kommt dann auch so ein Aspekt der Gewalt mit durch?

Symbiotische Beziehung

Gröning: Na ja, die beiden sind halt wie so eine Symbiose, also wie ein Doppelplanet. Ein Doppelplanet – für die, die es nicht wissen – ist ja sozusagen ein sehr eng umeinander herum kreisendes Gebilde aus zwei Planeten, wo natürlich die Fliehkraft und die Gravitationskraft genau gleich stark sind, weil sonst wäre es ja kein Doppelplanet. Und so sind diese Zwillinge wie so ein Doppelplanet. Die rasen umeinander herum und wollen eigentlich ununterbrochen voneinander weg, aber gleichzeitig hält es sie in dieser engen Symbiose. Und ich glaube, aus so einer Symbiose sich zu befreien, da kommt es schon auch zu 'nem Knall.
Burg: Sie haben auch erwähnt, sie denken viel über die Zeit nach. Elena macht ihre Abiturprüfung über die Zeiterfahrung bei Heidegger und Augustinus. Bevor wir vielleicht auf die Theorien kommen, ist ja auch interessant, dass Jugendliche darüber nachdenken. Inwieweit war das für Sie auch interessant, diese jugendliche Perspektive zu beleuchten, weil sie vielleicht auch so einen unverstellten Blick darauf hat?

Philosophie als Beschäftigung mit dem Verdrängten

Gröning: Da sind zwei Aspekte interessant: Das eine ist, in den ganzen Gymnasien und auch in den Universitäten ist Philosophie einer der am meisten besuchten Fächerbereiche. Das hat damit zu tun mit etwas, was ein Philosophielehrer mir mal sagte, ein schlauer Mann, der sagte: Philosophie ist die Beschäftigung mit dem, auf dessen Verdrängung unser normaler Alltag beruht. Wenn du im Alltag ununterbrochen darüber nachdenkst, was ist ein Ziel, was ist Zeit oder so, das funktioniert nicht. Nun ist gerade in dieser Pubertät, Spätpubertät, der Moment, wo es ja Umwechslungen gibt und daher plötzlich der Raum da ist, um nachzudenken über das, was du später unbedingt vergessen musst, um dein Leben sozusagen geregelt zu führen. Und das andere ist, dass die natürlich in dieser Spätpubertät ihre ganzen Karten neu sortieren müssen.
Ich habe jetzt gerade in Gent einen Preis bekommen von so einer Nachwuchsjury, die dann auch sagte, das ist der Film, der ihnen sozusagen tagelang nachher in den Jurydiskussionen nachgegangen ist. Die haben fünf Tage lang jeden Tag über diesen Film geredet, und dann haben sie halt gesagt, na klar, dann muss der jetzt halt auch gewinnen. Das hat damit zu tun, dass die Fragen, die wir als Erwachsene eigentlich abgeschlossen haben, die sind natürlich in diesem Alter da und müssen, wenn nicht gelöst, weil gelöst werden können sie nicht, aber doch wenigstens angeschaut werden.
Burg: Sie reden sehr viel über eben Zeit, über das Davor, das Danach. Zeiterfahrung ist natürlich auch eine wichtige Kategorie im Film, und es ist ja sehr spannend, wie Sie das dann filmisch umsetzen. Welche Gedanken haben Sie sich für diese Umsetzung im Film gemacht?

Die Gegenwart des Vergangenem und Zukünftigen

Gröning: Also Film ist ja vor allen Dingen ein zeitliches Medium, und alles Erzählen ist ja auch so, dass man etwas erzählt, und derjenige, der es empfängt, der Zuhörer oder Zuschauer, muss danach in der Erinnerung das Gesamtbild schließen, sonst hat er nichts verstanden. Eigentlich in allen meinen Filmen habe ich mich immer mit der Zeit beschäftigt, weil ich wirklich glaube, das ist das fundamentale Paradoxon, mit dem wir Menschen leben müssen. Natürlich existieren wir nur in der Gegenwart, und trotzdem ist sie ununterbrochen überflutet mit Vergangenheitserinnerungen und Zukunftsängsten oder Hoffnungen. Und damit sich zu beschäftigen im Film, was fundamental ein zeitliches Medium ist, ist das Spannendste, was ich mir vorstellen kann als Regisseur – vor allem, weil du damit die Zuschauer reinziehen kannst in eine wirklich tiefe Form von Erfahrung.
Burg: Interessantes Stichwort: Sie haben Kino auch mal als Erfahrungsraum bezeichnet. Für Sie gehört also sehr viel mehr zum Film, als eine Geschichte in Bildern zu erzählen, also so als das klassische Erzählkino.

Kino als körperliche Erfahrung

Gröning: Prinzipiell ist es ja eine unglaubliche, einzigartige Gelegenheit. Du hast diesen Raum, der ist schwarz und still, und in dieser Schwärze und Stille kannst du als Regisseur eine völlig neue Welt erschaffen, auf die die Zuschauer sich auch einlassen, und einen neuen Rhythmus erschaffen, auf den die Leute sich einlassen und der den wirklichen Körperrhythmus der Zuschauer verändert. Und das finde ich Wahnsinn, dass das Kino meistens diesen ganz tiefen Erfahrungsraum ignoriert, als wäre das Kino nur so eine Art Taschenbuch oder so, und das stimmt natürlich nicht.
Es ist einfach dieser quasi embryonale Raum, wo der Zuschauer sich vollkommen ins Vertrauen begibt und sich selbst und seine Zeit zur Verfügung stellt. Und daraus dann was zu machen, wo der Zuschauer wirklich eine Erfahrung mitgenommen hat, die ihn eben Tage beschäftigen kann, finde ich das Sinnvollste.
Burg: Sie müssen den Raum dann ja auch gestalten, mit Bildern füllen und eine Welt auch schaffen, kreieren. Wie wichtig ist das? Ich denke daran, dass einer der Orte in dem Film, der ja sehr eindrücklich im Kopf bleibt, diese Tankstelle ist, die Sie ja auch gebaut haben. Man hätte ja jetzt auch eine Tankstelle suchen können, die einfach irgendwo in der Landschaft steht. Also welche Rolle spielt es, eine Welt zu kreieren?

"Alle Details müssen stimmen"

Gröning: Eine riesige Rolle, deshalb ist Film auch so eine aufwendige Kunst. Es müssen halt alle Details zusammen stimmen, damit es ein Ganzes ergibt, und es muss der Rhythmus stimmen und es müssen die Bilder und die Emotionen der Schauspieler stimmen. Einen Film zu machen, ist unfassbar komplex. Es gelingt dann mit viel Arbeit und mit viel Arbeit von vielen Leuten auch, aber in diesem Fall war es zum Beispiel wahnsinnig wichtig, dass um die Tankstelle herum einfach gar kein einziges Haus zu sehen ist. Das ist in Europa richtig schwer zu finden, so eine Stelle. Und dann noch die Berge da hinten, das waren ja alles so meine Wünsche. Und tatsächlich haben wir diesen Ort gefunden, man kann es gar nicht glauben, aber dann hat man wirklich diesen schneebedeckten Schweizer Alpen hinter diesen Feldern, und das ist natürlich ein bestimmtes Bild, auch von Heimat.
Die Tankstelle ist für Elena (Julia Zange) und Robert (Josef Mattes) der einzige Kontakt zur Außenwelt.
Die Tankstelle ist für Elena (Julia Zange) und Robert (Josef Mattes) der einzige Kontakt zur Außenwelt.© W-film / Philip Gröning Filmproduktion
Burg: Wenn wir jetzt auch noch mal an die Zeiterfahrung denken, welche Rolle spielen in dem Zusammenhang die Nahaufnahmen, von denen Sie sehr viele haben im Film – kleine Insekten im Gras –, und dann wiederum auch die vielen Totalen, die Sie im Kontrast haben?
Gröning: Ich kann das nicht so ganz genau begründen. Es war einfach von Anfang an, dass ich wusste, ich brauche diese ganz, ganz nahen Aufnahmen, vielleicht auch, um zu sagen, dass alle Form von Existenz gleichwertig ist auf eine Weise – also es ist nicht so, als wären wir Menschen so wahnsinnig viel wertvoller als die Steine. Und gleichzeitig auch diese riesigen Totalen, um zu zeigen, das alles ist da, die Welt ist ja wirklich da, wo du als Mensch glücklich sein kannst. Und du als Zuschauer denkst, warum stehen diese beiden eigentlich nicht auf, gehen da hinaus und nehmen ihr Leben in Anspruch, anstatt sich in dieser Spirale zu befinden.

"Jeder Film ist ein neues Werk"

Burg: Wenn man sich Ihre letzten Spielfilme ansieht, also "L'Amour" oder "Die Frau des Polizisten" oder jetzt eben "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot", sie sind alle formal sehr unterschiedlich. Wie finden Sie die Form für jeden einzelnen Film, was ist das für ein Prozess?
Gröning: Das ist ein furchtbar anstrengender Prozess. Weil ich halt wirklich glaube, dass Kino Erfahrungsraum sein sollte und nicht nur dramaturgisches Erzählkino. Deshalb muss ich sozusagen für jeden Film oder für jedes Thema eigentlich die Form wieder neu finden, ganz neu sozusagen aus dem Boden stampfen, die das, was erzählt werden soll, nicht nur intellektuell verständlich macht, sondern auch wirklich körperlich erfahrbar. Dafür gibt es halt leider dann immer wieder keine Vorbilder eigentlich. So ist jeder Film sozusagen ein neues, erstes Werk. Und ich hoffe, dass es gelingt, aber es ist wahnsinnig anstrengend, der Prozess, und der ist halt zum großen Teil natürlich nicht einer, den man einfach intellektuell machen kann. Die Arbeit als Künstler ist ja vor allen Dingen, zu warten, bis die Ideen kommen, die dann richtig sind.

Unterrichten heißt erforschen

Burg: Sie haben viel unterrichtet – an der Filmakademie in Ludwigsburg, an der Filmschule in Köln –, wenn ich richtig informiert bin, haben Sie jetzt eine Gastprofessur an der Akademie der Bildenden Künste in München. Inwieweit ist es auch stimmig, dass Sie jetzt da sind, nicht an einer klassischen Filmschule, sondern an einer Akademie der bildenden Künste?
Gröning: Na ja, das ist schon extrem stimmig und macht mich auch sehr froh. Ich habe irgendwann mal gesagt, meine Filme gehen sozusagen dahin, wo das Kino eigentlich aufhört. Und der Schritt dann in die bildende Kunst ist sehr konsequent, und ich bin froh, dass der jetzt auch so gemacht werden kann, also nicht nur mit meinen eigenen Arbeiten, sondern auch auf der Ebene, dass ich an der Kunstakademie unterrichte – unterrichten, was heißt unterrichten – also zusammen mit den Studenten erforsche, wo es eigentlich hingehen kann.
Burg: Jetzt kommt trotzdem erst mal ein Film ins Kino, "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot", das ist der neue Film von Philip Gröning. Herzlichen Dank, dass Sie bei uns im Studio waren!
Gröning: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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