Philcologne

Utopische Bilder an die Wand malen

4. Philcologne: "Was tun - Zum Stand der Dinge" - Podiumsdiskussion mit Wolfram Eilenberger (Moderation), der ungarischen Philosophin Agnes Heller, dem britisch-australischen Historiker Christopher Clark und dem Philosoph Richard (v.l.n.r.)
Brauchen wir eigentlich eine Utopie?, fragten sich die Philosophin Ágnes Heller, der Historiker Christopher Clark und der Philosoph Richard David Precht bei der 4. Philcologne. © Deutschlandradio / Christoph Ohrem
Von Christoph Ohrem  · 18.05.2016
Wie beginnt man ein großes Philosophie-Festival? Zum Auftakt der 4. Philcologne stellten sich die Philosophin Agnes Heller, der Historiker Christopher Clark und der Philosoph Richard David Precht der großen Frage: "Was tun? – der Stand der Dinge". Dabei lag ein Thema in der Luft: die Flüchtlingsfrage, die allzu gern doch Krise genannt wird.
Was tun? Die Frage. Zunächst lieferten die drei Diskutanten eine Analyse. Die 1929 geborene Lukács-Schülerin Agnes Heller, die Nachfolgerin an Hannah Ahrendts Lehrstuhl in New York war, legte vor. Sie machte in geschichtsphilosophischen Betrachtungen darauf aufmerksam, dass Menschenrechte und Bürgerrechte in Widersprüche führen können:
"Heutzutage in der sogenannten Flüchtlingskrise kollidieren diese zwei Rechte. Wenn man nur die Menschenrechte in Betracht zieht, muss man doch alle Flüchtlinge hereinlassen. Alle Menschen sind gleich. Aber zur selben Zeit haben wir doch Bürgerrechte. Das heißt die Bürger können entscheiden, wer in ihrem Staat mit ihnen Leben soll.
Und die Bürger entscheiden halt auch gerne einmal gegen die Menschenrechte. Jeder ist sich zunächst selbst der Nächste. Der in Großbritannien lebende Historiker Christopher Clark, Autor des hoch gelobten Buches "Die Schlafwandler", zeigte in seiner Grundanalyse: Die westlichen Gesellschaften sind durch die starke Medialisierung, auch durch soziale Medien, dem Politainment verhaftet. Zwar hat das Internet das Leben tausendfach bereichert...
"... aber die neue Öffentlichkeit, die es hervorgebracht hat, hat auch ihre Schattenseiten. Sie kann zwar große Bewegungen hervorbringen. Ist aber durch eine starke Form der Zersplitterung geprägt. Sie ist nur für eine kleine Minderheit aktiv und partizipatorisch. Für die meisten führt sie in die Passivität des Zuschauers. Sie ist nicht, jedenfalls in weiten Teilen nicht, kritisch und dialogisch, im Sinne der von Jürgen Habermas konzipierten bürgerlichen Öffentlichkeit, und sie liegt außerhalb der Normvorstellungen und sozialen Disziplinierungsprozesse, die seit dem 18. Jahrhundert die klassische Öffentlichkeit mitgeprägt haben."

Victor Orbans Verschwörungstheorien

Die moderne Kommunikation ist geprägt durch sprachliche Enthemmungsprozesse, die letztlich allesamt auf dem Aufmerksamkeitsmarkt feilgeboten werden. Ein plausibler Erklärungsansatz für die teils panische Stimmung, die beim Thema Flüchtlinge vorherrscht. Heller ergänzte, dass sich selbst demokratische Führer dieses Mechanismus bedienten - etwa in ihrem Herkunftsland Ungarn. Wo Victor Orban Verschwörungstheorien verwendet, sagt Agnes Heller:
"Der Herr Orban hat zum Beispiel gesagt, darum kam es zu dieser Krise, weil Herr George Soros in Amerika die Menschen dafür bezahlt hat, dass sie die Flüchtlinge nach Europa senden sollen. Das hat ein Ministerpräsident gesagt."

Precht: "Wenn der Kitt mürbe geworden ist"

Richard David Precht, Bestseller-Autor über lebensphilosophische Themen, nahm diese beiden geschilderten Ansätze auf und bettete sie in eine umfassendere gesellschaftskritische These ein. Für ihn herrscht in unserer Gesellschaft ein Optimierungszwang vor:
"Diese Spar- und Optimierungsgesellschaft führt dazu, dass der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, mürbe wird. Und wenn der Kitt mürbe geworden ist, dann kann das Internet ein Brandbeschleuniger sein, die Privatmeinung in lauter Privatmeinungen von misstrauischen Menschen zu diffundieren. In solchen Situationen, wo so ein Unbehagen vorherrscht, dann suchen sich Menschen die Feinde dort, wo sie auf sie heruntergucken können. Und das ist das Schöne an den Flüchtlingen. Die stehen noch unter jedem Hartz-IV-Empfänger, weil, die sind nicht von hier."
Der analytische Teil des Abends verlief sehr kurzweilig. Als sich die Diskussion aber von den möglichen Ursachen des Krisenbewusstseins gegenüber Flüchtlingen in größere philosophische Höhen schraubte, plätscherte die Diskussion zunächst etwas dahin. Einige Schattengefechte über Art und Charakter des Kapitalismus führten schließlich zu der Kernfrage: Brauchen wir eigentlich eine Utopie?
Heller: "Ich fürchte mich vor Utopien. Wenn wir eine Utopie haben, dann werden wir desillusioniert. Man erwartet etwas, was nicht erfüllt sein kann."
Precht: "Wir brauchen keine Utopien im totalitären Sinne. Aber wir müssen – und das ist es, was uns heute fehlt – Bilder an die Wand malen, wie wir es denn gut finden würden. Das ist das, was es im Augenblick nicht gibt."
Wie dieses Bild aussehen soll? Darauf erhielten die Zuschauer keine Antwort. In einem kurzweiligen und insgesamt spannenden Abend haben die drei Diskutanten Grundpfeiler heutiger Gesellschaftsanalyse und einige zentrale Begriffe philosophischer Diskurse angerissen. Ein gelungener Auftakt für die Philcologne. Die Frage "Was tun?" beantworteten sie aber nicht. Philosophie ist halt manchmal dadurch gekennzeichnet, dass man nachher mehr Fragen hat als vorher.
Mehr zum Thema