Pflegenotstand "ist existent"

Andreas Westerfellhaus im Gespräch mit Martin Steinhage · 23.02.2013
Die Gesellschaft altert, die Zahl der Pflegefälle nimmt rasant zu. Zugleich gibt es aber immer weniger Menschen, die bereit sind, in der Kranken- oder Altenpflege zu arbeiten. Andreas Westerfellhaus, Präsident des Deutschen Pflegerats, ist überzeugt, dass der Pflegenotstand in naher Zukunft dramatische Folgen annehmen wird, wenn die Politik nicht rasch gegensteuert.
Deutschlandradio Kultur: Mein Gast heute ist Andreas Westerfellhaus, der Präsident des deutschen Pflegerats. Mit ihm möchte ich mich in den kommenden rund 25 Minuten über Pflege und Pflegepolitik unterhalten. Guten Tag, Herr Westerfellhaus.

Andreas Westerfellhaus: Guten Tag.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind Mitte 50, also statistisch gesehen noch weit davon entfernt, ein Pflegefall zu werden, aber eines Tages könnte es ja auch Sie erwischen. Hand aufs Herz: Haben Sie Angst davor, im Alter auf ambulante oder stationäre Pflege angewiesen zu sein?

Andreas Westerfellhaus: Wenn Sie auf eine ehrliche Frage eine ehrliche Antwort erwarten, dann muss ich sagen: Ja. Ich kann das sogar noch ergänzen. Natürlich mache ich dieses Ehrenamt aus der Motivation heraus, etwas für die beruflich Pflegenden zu bewirken, letztendlich aber auch mit der Sorge: Was passiert in einer Versorgung, wenn es mich persönlich mal trifft?

Deutschlandradio Kultur: Der Deutsche Pflegerat, dessen Präsident Sie sind, ist ein Dachverband, der seit 1998 die Belange der beruflich Pflegenden sowie der Hebammen vertritt und damit rund 1,2 Mio. Beschäftigte. Das wusste ich auch vorher nicht, dass es so viele sind. Wenn man sich die Situation in der Alten- und Krankenpflege anschaut, dann hat man allerdings den Eindruck, dass die Branche gar keine Lobby hat. Denn der Pflegebereich wird in vielerlei Hinsicht recht stiefmütterlich behandelt, was ja nicht zuletzt auch zulasten der Patienten geht. – Was läuft da eigentlich falsch?

Andreas Westerfellhaus: Das ist ein ganzer Blumenstrauß. Ich denke, es ist eine Form der Wahrnehmung, die falsch läuft, vielleicht auch das Wegducken der politischen Verantwortung vor einem Dilemma, was man zwar hat kommen sehen, was man aber in seiner Dimension nicht beherrschen kann, gerade in der Dimension: Wo wirkt denn eigentlich professionelle Pflege hinein, in alle Belange des Lebens, in alle gesellschaftlichen Bereiche?

An einem Beispiel: Ein Kind kommt zur Welt und hat möglicherweise einen operativen Eingriff über sich ergehen lassen müssen. Es braucht professionelle Pflege in der Versorgung. Und so geht es eigentlich weiter. Ich habe einen Sportunfall. Mein Sohn spielt Fußball. Er hat einen Beinbruch. Er braucht anschließend professionelle Pflege. Es geht weiter über die Versorgung durch unsere Soldatinnen und Soldaten in Krisengebieten, in der Entwicklungshilfe, in der Traumatologie, in der Notfallaufnahme, auf der Intensivstation, im OP-Bereich, in der Alten- und Krankenpflege, in der Psychiatrie, in der Onkologie, in der Palliativpflege bis hin zum Ende des Lebens.

Und wir forschen in unserer Berufsgruppe. Wir lehren. Wir tragen Verantwortung jeden Tag. Niemand anders kann das in dieser Gesellschaft. Und wenn man sich das einmal ansieht, dann ist es umso unverständlicher, warum die Wahrnehmung dieser Tätigkeit, dieser hoch professionellen Tätigkeit für diese Gesellschaft so immens eingeschränkt ist.

Deutschlandradio Kultur: Ein bisschen Ratlosigkeit höre ich auch bei Ihnen heraus, warum es so ist, wie es ist. Wir werden das in diesem Gespräch noch vertiefen. Deswegen gleich sozusagen die Hammerfrage: Haben wir in Deutschland bereits heute einen Pflegenotstand?

Andreas Westerfellhaus: Aber ja, ganz klar. Ich muss Ihnen auch ganz ehrlich sagen, mir treibt es da manchmal die Schweißperlen auf die Stirn, wenn ich Politiker höre, wir warnen vor einem drohenden Fachkräftemangel und vor einem drohenden Pflegenotstand. – Nein, er ist existent. Er ist nicht nur existent, weil wir viel zu wenige sind, um eine qualifizierte Versorgung aufrechtzuerhalten, sondern weil die, die es jeden Tag tun, an ihre Grenzen gekommen sind und das jeden Tag erfahren mit gesundheitlichen Belastungen, die sie in Kauf nehmen, um für ihre Patienten und Patientinnen zu sorgen und einzutreten.

Das ist auch Notstand – nicht mehr zu können, zu erfahren, resignieren zu müssen, obwohl man will, und dann möglicherweise auch den Beruf verlassen muss, weil man die Verantwortung einer qualitätseingeschränkten Versorgung gar nicht mehr mittragen kann.

Deutschlandradio Kultur: Die Zahl der älteren Menschen nimmt wegen der demografischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts zu. Zugleich wollen – Sie haben es angedeutet – immer weniger den Pflegeberuf ergreifen bzw. in ihm verbleiben. Was muss eigentlich geschehen im Interesse der Alten und Kranken und damit auch im Interesse der Pflegerinnen und Pfleger?

Andreas Westerfellhaus: Ich denke, wir müssen das, was unseren Beruf attraktiv macht und nach wie vor attraktiv ist, sehr viel transparenter machen. Es wird häufig der Eindruck geweckt, dass wir Situationen in unserem Beruf haben, die in sich schon unerträglich sind. Das ist nicht so. Heute sagen immer noch 70 Prozent unserer Berufsangehörigen, sie würden den Beruf noch mal ergreifen, allerdings unter anderen Rahmenbedingungen. Und das ist eine gute Ausgangssituation. Das müssen wir jungen Menschen klar machen, welche Perspektive, welche Karrierechancen, welche Entwicklungen sie haben in einem Beruf, der einen Menschen erfüllen kann.

Aber dann brauche ich ausreichend qualifizierte Ausbildungsplätze, ausreichend finanzierte Ausbildungsplätze, die eine hohe qualifizierte Versorgung sicherstellen. Dann brauche ich ausreichende Stellenbesetzungen in den unterschiedlichsten Sektoren, damit die Kolleginnen und Kollegen ihre qualifizierte Arbeit sicherstellen können. Dann brauche ich Rahmenbedingungen. Ich brauche eine vernünftige Bezahlung, die es mir möglich macht, in diesem Beruf auch zurechtzukommen, indem es mir gelingt, Familie und Beruf zu vereinbaren und eben nicht nur mit Kindern, sondern möglicherweise mit meinen eigenen kranken Angehörigen, und die mir Situationen verschafft, auch bis ins höhere Lebensalter meinem Beruf nachzukommen und nicht wegen einer höheren Belastung mit 60 möglicherweise in Teilzeitbereiche zu flüchten oder auszusteigen.

Deutschlandradio Kultur: Ich nenne mal zwei, drei Zahlen, die Sie natürlich kennen, Herr Westerfellhaus, aber nicht alle Hörerinnen und Hörer. Bereits 2025, also in 12 Jahren, könnten über 100.000 professionelle Pfleger fehlen. Zurzeit ist es schon so, dass in den Kliniken 3.000 Pflegekräfte fehlen, in der Altenpflege sind es rund 14.000 offene Stellen. Und nur 30 Prozent aller offenen Stellen können überhaupt mit examinierten Pflegern besetzt werden. Sie haben eben auch das Stichwort Bezahlung als eines unter anderem genannt. Was verdient man eigentlich in der Altenpflege?

Andreas Westerfellhaus: Wenn Sie als Einsteiger ein Bruttogehalt – Pi mal Daumen – von 1800 Euro oder 2000 Euro ausgeben, dann liegen Sie sicherlich einigermaßen richtig.

Deutschlandradio Kultur: Was ja schon ein Stück weit über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt, den Sie seit 2009 in der Branche haben – zurzeit 7,75 Euro im Osten und 8,75 Euro West. Was wäre denn angemessen, wenn man das überhaupt sagen kann. Müsste ein ordentlicher Schluck drauf oder würde schon ein bisschen reichen? Oder reicht einfach mehr Anerkennung?

Andreas Westerfellhaus: Wenn wir unsere Pflegenden befragen, dann sagen sie in der Prioritätenliste ganz klar, es ist nicht in erster Linie das Geld, sondern – ich habe es dieser Tage von einer Kollegin noch mal gehört, die hat gesagt - in der Priorität liegt für mich eins an erster Stelle: Ich brauche mehr Kollegen, damit ich das, was ich kann, auch leisten kann und damit ich es auch gesund leisten kann. Und dann kommt natürlich sicherlich der Punkt, dass unter steigenden finanziellen Belastungssituationen ich auch mit dieser Leistung für diese Gesellschaft auch persönlich familiär zurechtkommen muss. Es kann nicht sein, dass ich einen Vollzeitjob habe in der Pflege, in der Altenpflege, in der Gesundheits- und Krankenpflege und anschließend möglicherweise in der Waschanlage noch Autos waschen muss. Das können andere tun. Da brauchen wir die Möglichkeit genau in der Pflege.

Jetzt einfach zu sagen, wir brauchen darauf sechs oder zehn Prozent, ist eine sehr vereinfachte Diskussion. Es muss schon eine ordentliche Aufwertung – wenn dann – stattfinden. Aber das ist eine Diskussion, wo gleich alle die Hände hochheben und sagen: Wie soll das in einem solchen System bezahlbar sein?

Deutschlandradio Kultur: Das wollt ich Sie gerade fragen: Wenn Sie sagen auf der anderen Seite, die Kollegen wollen eigentlich, dass wir vor allen Dingen mehr sind, dass wir die Arbeit besser verteilen können, auch das kostet Geld. Wo soll das Geld herkommen? Oder fehlt einfach das Bewusstsein dafür, dass Pflege eben auch Geld kostet?

Andreas Westerfellhaus: Ich glaube, beim Letzten angefangen liegt eines der tatsächlichen Übel begraben. Professionelle Leistung, professionelle Pflegeleistung kostet einfach Geld. Wenn Quantität sich jetzt auch noch steigert, weil mehr Menschen mit auch zum Beispiel höherem Anteil an Alterserkrankungen, demenzieller Versorgung dann vorhanden sind, dann muss einfach klar sein, dass diese Leistung Geld kostet. Und andere Berufsgruppen, die ähnlich hervorragende Leistungen – ich spreche jetzt einfach mal die Ärzteschaft an in den Krankenhäusern – erbringen, schaffen es ja, genau diese Leistung mit aller Macht und ihren Anspruch auch durchzusetzen.

Da kann man diese Berufsgruppen nicht auseinander dividieren und kann sagen, bei dem einen ist die Leistung höher oder beim anderen ist sie weniger. Nein. Es darf auch nicht zulasten der einen oder anderen Berufsgruppe gehen, sondern hier müssen wirklich angemessene Entlohnungen – auch nach den Qualifikationsniveaus der Einzelnen – dann vorgenommen werden.

Deutschlandradio Kultur: Ich will noch mal kurz zurückkehren zur Rolle der Politik. Haben Sie den Eindruck, dass die Politik – ohne jetzt Parteien zu benennen, wahrscheinlich sind es ja wirklich dann auch alle – sich ein Stück weit bei diesem Thema wegduckt?

Andreas Westerfellhaus: Ja, ganz klar. Ich bin etwas ratlos, warum sie das tut. Ich gebrauche dann immer das Beispiel Büchse der Pandora, Deckel auf, reingeguckt und das Dilemma gesehen, schnell drauf, sonst wird es jemand nach mir lösen. Aber damit kommen wir nicht weiter.
Denn wir haben ja kein Analyseproblem. Wir haben alle drei Monate eine neue Untersuchung mit neuen Untersuchungsergebnissen, die alles Mögliche bestätigen. Wir haben nur keine konkreten zukunftssicheren Handlungsergebnisse, die eine Perspektive dann eröffnen. Aus dieser Situation heraus, weil wir hier kein Gehör finden – ob in den Ländern oder im Bund –, haben wir jetzt als Deutscher Pflegerat in Zusammenarbeit mit dem Verband der Pflegedirektoren der Universitätsklinika einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin Angela Merkel geschrieben.

Deutschlandradio Kultur: Der Brief ist vom 5. Februar. Haben Sie schon eine Antwort?

Andreas Westerfellhaus: Nein. Wir hoffen, das kommt.

Deutschlandradio Kultur: Herr Westerfellhaus, sehr schädlich für das Ansehen der Branche sind ganz ohne Frage die Missstände in vielen Pflegeheimen. Gerade in der stationären Pflege gibt es vielerorts ein rücksichtsloses Gewinnstreben zulasten der Patienten, wie ja auch der Pfleger. Praktisch überall gibt es den Kostendruck mit den bekannten Folgen, Minutenpflege usw. usf. - Liegt in der Beseitigung dieser Übel der Schlüssel für eine bessere Anerkennung Ihres Berufsstandes?

Andreas Westerfellhaus: Ich denke, wir brauchen – wie eben anders schon mal betont – einen ganzen Blumenstrauß an Maßnahmen. Schauen Sie mal: Ich denke auch an meine eigene Berufswahl zurück. Die Gründe, warum man in diesen Beruf geht, sind ganz vielfältig. Sie liegen in der Meinung, an einem Menschen zu arbeiten. Wir geben uns einen beruflichen Ethos, mit dem wir diese Tätigkeiten denn dann auch umsetzen wollen.

Und dann erleben Sie in der Praxis zunehmend, dass Sie eigentlich instrumentalisiert werden, vorrangig durch Gewinnmaximierung und ökonomische Interessen. Sie erfahren permanent eigentlich in ihrer Berufsausübung, dafür haben wir kein Geld und dafür haben wir keine Zeit. Das kollidiert massiv mit dem Ethos und dem Anspruch, was wir unter Qualität und Leistung in der Zusammenarbeit mit Menschen denn dann verstehen.

Und da gibt es sicherlich Bewältigungsmechanismen, die immer fürchterlich sind, die für die einen darin münden, den Beruf zu verlassen, für den Sie hoch geeignet sind, oder aber in andere Länder zu gehen, in denen Sie eine höhere Wertschätzung und Anerkennung erfahren. Und letztendlich sicherlich auch manchmal, was ich besonders tragisch finde, dann in der absoluten Hilflosigkeit das eine oder andere Mal auch in einem Ausbruch von Gewalt gegen sich selbst oder gegen andere münden, was beides entsetzlich ist.

Deutschlandradio Kultur: Sie selbst haben den Job von der Pike auf gelernt, mit 18 die Ausbildung zum Pfleger, später Fachkrankenpfleger, Betriebswirt und Lehrer für Pflegeberufe, was Sie jetzt in Gütersloh tun. Um ein hohes Niveau in der pflegerischen Ausbildung garantieren zu können, braucht es entsprechende Standards. Wer wüsste das besser als Sie? Haben Kritiker eigentlich recht nach Ihrem Dafürhalten, die da sagen, in den Pflegebereich gingen leider allzu viele leistungsschwache Schulabgänger, die sonst nichts finden?

Andreas Westerfellhaus: Nein. Also, wenn das Kritiker sagen, von wo auch immer die herkommen mögen, muss ich das einfach komplett dementieren. Es ist eher umgekehrt. Politik versucht ja einen ganz anderen Weg zu gehen. Sie hat einen Fachkräftemangel erkannt und sie versucht dieses Problem zurzeit – und dafür gibt es viele Beispiele, ob über die europäische Berufsanerkennungsrichtlinie oder über Gesetzesveränderungen im Berufsgesetz – über Quantität statt über Qualität zu lösen. Das heißt, nach dem Motto pflegen kann ja jeder zu sagen, ich öffne es. Es gibt Aussagen von Politikern, die sagen, wir brauchen einen barrierefreien Zugang zu diesem Beruf. Das bedeutet übersetzt nichts anderes: Es braucht keinen Schulabschluss.

Wenn man die Tätigkeitsprofile dem aber gegenübersetzt, was macht jemand, dann weiß der Patient, der Angehörige, der das spürt, jeden Tag genau, was damit gemeint ist. Und wir sind die Verfechter dafür, dass wir hohe intellektuelle Anforderungen brauchen, weil die Berufstätigkeit ist immens in der Verantwortung und in ihrer Herausforderung inhaltlich, fachlich, intellektuell so gewachsen, dass wir auch in den Zugangsvoraussetzungen und aber auch in der Ausbildung und im Studium Rahmenbedingungen brauchen, die dieser Profession und der Aufgabe gerecht werden.

Deutschlandradio Kultur: Pflegekräfte brauchen neben der fachlichen Ausbildung soziale Kompetenzen, und das in großem Maße. Sie müssen physisch und psychisch sehr belastbar sein. Kann man das überhaupt schulisch vermitteln oder kann man feststellen, wer überhaupt unter diesen Voraussetzungen geeignet ist für den Beruf?

Andreas Westerfellhaus: Ich denke, dass unsere Ausbildungsstätten in Deutschland sehr viel Erfahrung damit haben, über Assessmentverfahren auf der einen Seite einmal den fachlichen Stand zu überprüfen - ist jemand den Herausforderungen einer solchen Ausbildung, eines Studiums gewachsen? - und auf der anderen Seite auch mit ihrer Erfahrung zumindest eine Einschätzung der sozialen Kompetenz dann zu eruieren.

Auf der anderen Seite muss man auch sagen, dass diejenigen, die sich für den Beruf entscheiden, das nicht in einer Nacht- und Nebelaktion tut, indem sie gerade mal überlegen, ob ich Computerfachmann werde oder eine Karriere in der Pflege anstrebe, sondern oftmals sind es langjährige Prozesse, die sehr wohl überlegt sind und dazu führen, sich für diesen Beruf zu entscheiden. Deswegen passt es eben auch nicht, wenn hochrangige Politiker immer dann, wenn eine größere Gruppe an Menschen plötzlich durch einen Arbeitgeber arbeitslos werden, zu sagen, okay…

Deutschlandradio Kultur: Sie können ruhig die Schlecker-Frauen nennen.

Andreas Westerfellhaus: Genau. Zu sagen, die sind jetzt alle geeignet für die Pflege, das wird der Profession der Pflege nicht gerecht und das wird letztendlich auch diesen Frauen nicht gerecht, indem man sie von einem Punkt in den anderen verschiebt. Es braucht eine Neigung und eine Profession und eine Berufung für einen Beruf. Davon kommt Beruf übrigens.
Deutschlandradio Kultur: Und das ganz sicherlich in ganz starkem Maße auch bei dem Thema demenzielle Erkrankungen, die rasant zunehmen, eben wegen der Alterung der Gesellschaft und weil die Menschen eben auch immer älter werden. Ich glaube, über 90 ist quasi jeder Zweite in irgendeiner Form dement. Werden denn die angehenden Pflegerinnen und Pfleger eigentlich darauf genügend vorbereitet? Oder findet eine Weiterbildung während des Berufslebens auf diesem Sektor statt in diesem Bereich?

Andreas Westerfellhaus: Wenn Sie jetzt genau die demenziellen Erkrankungen ansprechen, gibt es einen großen Nachholbedarf. Das ist so. Wir haben Untersuchungen, die das ganz genau belegen, weil mit der Rasanz – auch gerade in somatischen Einrichtungen, das heißt, in unseren Krankenhäusern – werden wir täglich konfrontiert; diese Herausforderung, mit demenziell erkrankten Menschen umzugehen, hat uns eingeholt.

Dem sind unsere Ausbildungsrahmenbedingungen häufig nicht schnell genug gefolgt. Da haben wir Defizite. Wir versuchen das aus der Berufsgruppe heraus mit Weiterbildungen und Seminaren zu belegen, weil wir genau wissen, was passiert, wenn wir uns genau dieser Herausforderung nicht stellen.

Aber das kann ich nicht einfach mal im "learning by doing" oder nach meinem Gefühl tun, sondern es braucht hier ein Verständnis dafür, was dieser Krankheit zugrunde liegt. Und es braucht auch für mich einen Verhaltenskodex, um letztendlich auch die Möglichkeiten, mein Verhalten zu widerspiegeln und Supervision, Begleitung zu haben. Denn es ist zugegebenermaßen für Angehörige und auch für professionell Pflegende häufig eine immens schwierige, belastende Situation, wenn man auch mit demenziell erkrankten Menschen denn dann adäquat und würdig umgehen möchte.

Deutschlandradio Kultur: Die Aufgaben der Pflegerinnen und Pfleger sind ja auch noch in dem Sinne gewachsen, dass sie neuerdings Aufgaben teilweise übernehmen dürfen, die ursprünglich allein Medizinern vorbehalten waren. Qualifizierte Pflegekräfte dürfen jetzt auch Tätigkeiten ausüben, die früher nur der Hausarzt gemacht hat. An der Stelle soll der Hausarzt entlastet werden. Hat sich das nach Ihrem Dafürhalten bewährt? Und funktioniert das Zusammenspiel zwischen Ärzten und Pflegern? Ich erinnere daran, im Juni 2012 haben Sie gesagt, dieses sei kein Verhältnis auf Augenhöhe. Hat sich das gebessert?

Andreas Westerfellhaus: Ich denke, man kann das nicht pauschal über alles hinaus ausgießen. Ich glaube, in vielen Bereichen ist es so, dass ein Zusammenspiel zwischen Ärzten und Pflegenden hervorragend funktioniert, weil es gar nicht anders funktionieren würde, weil eine Versorgung schon gar nicht mehr aufrechtzuerhalten ist.

Deutschlandradio Kultur: Wir reden von Verbandswechseln, von Spritzen intramuskulär….

Andreas Westerfellhaus: Zum Beispiel, aber auch etwa von der Versorgung chronischer Wunden. Da liegt die Expertise ohne Weiteres und ohne Frage bei den Pflegenden selber, die sich weiter qualifiziert haben. Das ist ein Brachfeld, was Ärzte …

Deutschlandradio Kultur: … wo zum Beispiel die Hebamme oft besser Bescheid weiß als der Gynäkologe…

Andreas Westerfellhaus: Ganz genau. Was andere Berufsgruppen einfach haben liegen lassen, da haben wir eine Expertise uns erarbeitet. Die trägt zum Nutzen der Patienten bei. Dass das immer gleich Akzeptanz in anderen Berufsgruppen erfährt, das kann man nicht sagen.

Aber lassen Sie mich auf eines hinweisen. Wenn wir denn dann reflektieren, dass wir immer weniger junge Menschen haben, die für die Berufe im Gesundheitswesen zur Verfügung stehen, für Ärzte wie auch für Pflegende, da muss es klar sein, dass es in erster Linie um eine qualifizierte Versorgung geht und nicht nur um die Frage, wer macht das. Der Patient erwartet, dass er bestmöglich qualifiziert und kompetent versorgt wird von jemand, der da ist und der Zeit hat und der es kann. Und der hat kein Verständnis für ideologische Auseinandersetzungen nach dem Motto: Das geht nicht, das ist ein Arztvorbehalt und einer Pflegekraft darf da höchstens etwas delegiert werden.

Da ist das europäische Ausland im Übrigen in vielen Dingen viel, viel, viel weiter und nicht einfach, weil sie damit die Leistung sicherstellen, sondern auch weil sie den Beweis angetreten haben, zur wesentlichen Qualitätsverbesserung einen Beitrag geleistet zu haben. Das wird in Deutschland häufig ausgeblendet.

Deutschlandradio Kultur: Aus den jetzt hinlänglich angesprochenen Gründen nimmt hierzulande die Zahl der ausländischen Pflegekräfte zu, eben weil es auch zu wenig einheimische gibt. Viele von diesen ausländischen Kräften werden privat und schwarz beschäftigt, vor allem bei der häuslichen Pflege. Viele werden zwar angemeldet, aber eben ausgebeutet. Und sehr viele sind nicht oder nur unzureichend ausgebildet.

Haben Sie den Eindruck, dass die Politik sehr bewusst die Augen vor diesem Problem verschließt, weil sonst speziell das System der Altenpflege längt zusammengebrochen wäre?

Andreas Westerfellhaus: Ich muss das ja erst mal unterstellen. Ein anderer Grund fällt mir ja wirklich nicht dann dazu ein. Denn Sie haben recht an einer Stelle. Wenn ich rigoros diese Beschäftigung von illegalen Pflegekräften denn dann unterbinden würde, würde ich natürlich ein Versorgungsproblem auf der anderen Stelle immens erhöhen, ein vermeintliches Versorgungsproblem.

Wobei mir allerdings ganz wichtig ist auseinanderzuhalten, was verstehen wir denn gerade im illegal beschäftigten Bereich unter Pflege? Hier muss man deutlich auseinanderhalten…

Deutschlandradio Kultur: Ich sag mal jetzt ganz einfach, die Rund-um-die-Uhr-Betreuung für Oma.

Andreas Westerfellhaus: Ja, wo es dann um hauswirtschaftliche Tätigkeiten möglicherweise geht, wo es um die Sicherheit geht, wo es um die Begleitung geht, einfach um eine Einsamkeit zu verhindern. Aber letztendlich ist es das Resultat des Wegschauens politischer Verantwortung in Jahrzehnten. Das hat letztendlich dazu geführt, weil die Menschen sich helfen mussten. Das sagt man mir jedes Mal: Was soll ich machen? Ich kann keine Pflegekraft finden, die 24 Stunden über Tag und über Nacht dann da ist. Ein ambulanter Pflegedienst ist gar nicht in der Lage, dieses dann auch zu leisten.

Deutschlandradio Kultur: Und der kostet sehr viel Geld.

Andreas Westerfellhaus: Ja, und es wäre dann möglicherweise auch für mich nicht bezahlbar.

Deutschlandradio Kultur: Hat eigentlich jemand auf dem Schirm, oder haben Sie das auf dem Schirm, dass es einerseits ohne die Pflegekräfte aus dem Ausland eben nicht mehr gehen wird, aber dass man andererseits darauf achten muss, dass die Standards an dieser Stelle hochgehalten werden und eben auch die Ausbeutung verhindert wird? Es sind ja schlussendlich Kolleginnen und Kollegen.

Andreas Westerfellhaus: Also, wir haben das auf dem Schirm. Der Deutsche Pflegerat, seine Mitgliedsorganisationen und wir in der Profession, wir haben ganz große Sorge, dass durch einen ungezügelten Zuzug nicht mehr klar wird, was steckt in Pflege denn tatsächlich drin. Einfach Pflegekräfte aus anderen Staaten zu holen, ohne zu wissen, mit welcher Qualifikation, auch letztendlich mit welcher Sprachkompetenz sie in Deutschland arbeiten können und versorgen können, das ist der falsche Weg.

Mein mahnender Finger geht ja immer ganz deutlich dahin zu sagen, nicht als erstes nach dem Ausland zu rufen - die im Übrigen ähnliche Probleme haben in der demographischen Entwicklung, die möglicherweise aus ganz anderen Gründen, wie jetzt Spanien oder Portugal dann einer Arbeit in Deutschland nachgehen wollen -, sondern zu Hause die Aufgaben machen, die seit langer Zeit verschlafen worden sind. Nämlich, wir haben einen hohen Anteil an Teilzeitbeschäftigten, an Menschen, die aus dem Beruf geflüchtet sind. Wenn wir an den Rahmenbedingungen endlich etwas ändern würden, glaube ich, dass wir ein Potenzial auch wieder zurückbekommen würden.

Und dann ganz klar auch eins: Jede Pflegekraft aus dem Ausland, die sagt, wir wollen in Deutschland arbeiten, ist uns herzlich willkommen, aber nach klaren beschriebenen Qualitätsstandards, nach klar beschriebenen Sprachniveaus. Das ist eine pflegerische Kompetenz, die mit der Kommunikation eines Patienten, mit der Beziehung eines Patienten ganz eng verknüpft ist. Das ist eine grundlegende Kompetenz, die hier vorhanden sein muss. Sonst wird’s gefährlich.

Deutschlandradio Kultur: Herr Westerfellhaus, um Ihr Wort aufzugreifen, wir haben jetzt einen ganzen Strauß von Problemen besprochen, die Ihrer Branche unter den Nägeln brennen. Da frage ich mich: Warum ist Ihre Branche, immerhin die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen, nicht kämpferischer? Warum hält man eigentlich so vergleichsweise klaglos still?

Andreas Westerfellhaus: Das klaglos Stillhalten, das war gestern. Wir machen in den letzten Jahren deutlich mehr, was die Aufklärung angeht. Wir versuchen, unsere Berufsgruppe zu sensibilisieren. Sie haben natürlich recht. Wenn Sie wesentlich kleinere Berufsgruppen sehen, die eine hohe Durchsetzungskraft hat…

Deutschlandradio Kultur: Krankenhausärzte, um im Beispiel zu bleiben, oder Pilotenvereinigung Cockpit, um mal was anderes zu nennen.

Andreas Westerfellhaus: Genau. Da hat man hier auf diese Art und Weise eine ganz andere Form von Möglichkeiten, dann Erfolge und Ziele auch durchzusetzen.

Da muss die Profession der Pflege und der Berufsgruppe erheblich etwas lernen. Da klären wir auf. Wir fordern es ein. Wir sagen, wenn ihr es wollt, denn es gibt ja Ansprüche, dass sich in diesem System was ändern muss, dann müsst ihr auch klar Menschen damit beauftragen, für euch diese Leistungen dann zu erbringen. Dann braucht es eine Solidarisierung dieser Berufsgruppe, der größten Berufsgruppe. Und wenn die sich solidarisieren würde, hätte sie es in der Hand, die Ausgestaltung der Berufsgruppe weiter voranzutreiben – und das im Interesse der Menschen in dieser Gesellschaft.

Deutschlandradio Kultur: Herr Westerfellhaus, die letzte Frage: Wären Sie im zunächst erlernten Beruf des Pflegers geblieben, dann hätten Sie inzwischen mehr als 35 Jahre auf dem Buckel, aber Sie wären immer noch gut 10 Jahre von der Rente ohne Abschläge entfernt. Kann man eigentlich den Vollzeitjob des Pflegers ein ganzes Erwerbsleben lang durchhalten?

Andreas Westerfellhaus: Ich denke, ich kann jetzt hier nur für mich sprechen, weil, es wird sicherlich Ausnahmen geben, die auch andere Biografien beschreiben könnten. Ich würde meine Tätigkeit auf meiner Intensivstation, schon unter den damaligen Rahmenbedingungen mir bis zum 65. Lebensjahr nicht vorstellen können.

Und die Kolleginnen und Kollegen, die in dieser Versorgungssituation arbeiten, sind an ihre Belastungsgrenzen gekommen. Sie haben sie bei Weitem überschritten und sie flüchten in die eben schon erwähnten Bildungsmöglichkeiten, Teilzeit oder früher in den Ruhestand zu gehen. Und das ist fatal, weil, wir brauchen gerade diese Kompetenzen.

Deutschlandradio Kultur: Ganz herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Westerfellhaus.
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