Pflegebedürftigkeit

"Kein Betriebsunfall des Lebens"

Der Präsident des Deutschen Caritasverbands (DCV), Peter Neher spricht am 17.07.2013 in Berlin bei der Jahres-Pressekonferenz zu den Gästen.
Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbands © dpa / Rainer Jensen
Peter Neher im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 04.07.2014
Heute debattiert der Bundestag über die Reform der Pflegeversicherung. Es geht wieder einmal um Geld. Doch damit allein ist das Problem nicht zu lösen, meint der Caritas-Präsident Peter Neher.
Korbinian Frenzel: Bei dem Thema, über das wir jetzt sprechen, da könnte ich Ihnen beeindruckende Zahlen präsentieren, Zahlen, die zeigen, wie viele Menschen betroffen sind, und mit ihnen ihre Angehörigen. Ich kann Sie aber auch einfach direkt ansprechen mit der Frage: Haben Sie einen Verwandten, haben Sie einen Freund, der pflegebedürftig ist? Haben Sie Kollegen, bei denen das den Alltag bestimmt? Ich vermute, dass sehr viele von Ihnen diese Frage mit Ja beantworten werden. Pflege ist ein Thema, das fast jeden trifft. Aber die Diskussion darüber ist meistens eine sehr technische. Da geht es um Geld, um Betreuungsschlüssel, um – wie aktuell heute im Bundestag – eine Ausweitung der Pflegeversicherung. Das sind alles wichtige Dinge, kein Zweifel. Aber müssen wir nicht grundsätzlicher darüber nachdenken, wie wir eigentlich mit unseren Alten umgehen wollen, welche gesellschaftlichen Veränderungen wir brauchen? Ich spreche darüber mit Prälat Peter Neher, er ist Präsident der Caritas. Guten Morgen!
Peter Neher: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Herr Neher, wahrscheinlich wurde nie so viel Geld in die Hand genommen, um alte Menschen zu pflegen, wie heutzutage. Und gleichzeitig fühlt es sich so an, als sei das alles nicht ausreichend. Gehen wir gut um mit unseren Alten?
Neher: Ich denke, zum einen ist es ja mal wichtig, auch bei allem, was hier an wichtigen Diskussionen läuft, festzustellen: Das ist ja ein großer Gewinn, ein großes Gut, dass Menschen ein hohes Alter erreichen. Und ich denke, Menschen, die alt werden, die kommen ja häufig im Moment aus der Generation Krieg, Nachkriegszeit, die einen großen Schatz von Erfahrungen mitbringen. Und ich glaube, dass das in der Debatte im Moment deutlich zu kurz kommt.
Frenzel: Es ist ein großes Gut, dass wir älter werden, da gebe ich Ihnen recht. Aber es ist eben auch ein großes Problem, große Kosten, die da auf uns zukommen. Kann man das einer jungen Generation abverlangen?
Auch alte Menschen müssen ihren Beitrag leisten
Neher: Ich glaube, das ist natürlich ganz stark das Stichwort Generationengerechtigkeit. Wenn wir in einer Gesellschaft leben, wo junge und alte Menschen einen berechtigten Platz haben, dann braucht es natürlich die Solidarität aller. Und gleichzeitig sprechen Sie natürlich auch an: Es kann nicht nur auf dem Rücken der wenigen jungen Menschen sein. Also, wir brauchen ein anderes Miteinander, wo auch tatsächlich die alten Menschen ihren Beitrag leisten. Und wenn Sie die dritte Lebensphase hernehmen, da sind ja Menschen unheimlich aktiv noch und agil, obwohl sie in der Rente sind. Und ich glaube, wenn die auch ihren Beitrag – und viele tun das ja – in der Unterstützung ihrer Familien, ihrer Kinder leisten, dann, glaube ich, schaut Solidarität noch mal anders aus als wie nur zwischen Jung und Alt, dann ist es auch eine Frage der Solidarität zwischen den Alten und zwischen den unterschiedlichen Lebensphasen.
Frenzel: Wie kann man sich das konkret vorstellen? Was Sie sagen, zielt ja letztendlich in die Richtung, es ist nicht unbedingt immer mehr Geld oder mehr Betreuung, um die es geht. Aber was ist es dann konkret?
Neher: Ich glaube, das eine ist, das tun und das andere nicht lassen. Es geht um Betreuung, es geht auch um Geld, dass es nicht einfach zum Nulltarif ist. Und das andere ist eine Wertschätzung des Alters, von den Potenzialen, die Menschen mitbringen. Ich denke, es gibt viele, die dann tatsächlich mit Geld, mit Zeit ihre Kinder unterstützen, ihre Enkel unterstützen und so das Leben der Familien ermöglichen, oder auch finanziell ... Die momentane Rentnergeneration ist sicherlich die, die mit am besten ausgestattet ist, wesentlich besser als früher und vermutlich auch in Zukunft, die so die Solidarität zwischen den Generationen stärken. Und das ist, glaube ich, ein wichtiger Aspekt, der bei aller notwendigen Debatte um Pflegeschlüssel und Finanzierung tatsächlich im Blick behalten werden muss. Also der Wert des Alters und gleichzeitig die Solidarität zwischen diesen Generationen.
Zeit und Raum für häusliche Pflege zu gewährleisten, ist schwerer geworden
Frenzel: Wir sehen ja, dass Familien ganz häufig jetzt schon überfordert sind, wenn sie Angehörige pflegen. Liegt das aus Ihrer Sicht wirklich an den größeren Belastungen heute oder empfinden wir heute etwas als Belastung, was früher ganz selbstverständlich war, als die Großeltern ganz selbstverständlich eben bis zum Tod in den Familien geblieben sind?
Neher: Ja, der große Unterschied ist natürlich der, dass Familien heute durch Berufsalltag, durch Beschäftigung, durch die Beschäftigung beider, Vater und Mutter, Tochter und Sohn, dass hier ganz andere Konstellationen sind. Und es wird selbstverständlich vom wirtschaftlichen Leben erwartet, dass jemand, der in Garmisch eine pflegebedürftige Mutter hat, aber selbstverständlich den Arbeitsplatz in Hamburg annimmt. Also, das heißt, das hat sich schon deutlich verändert, dass tatsächlich durch die Ansprüche der Gesellschaft des Arbeits- und Wirtschaftslebens es eben so einfach nicht mehr ist, die Zeit und den Raum zu haben, um häusliche Pflege zu gewährleisten. Ganz zu schweigen, dass es immer noch die Hälfte sind, die ausschließlich von Angehörigen gepflegt werden. Da passiert immer noch ganz viel. Aber der gesellschaftliche Rhythmus, durch die Arbeitswelt, durch die unterschiedlichen Erwartungen auch an Familie und Einkommen, hat sich die Situation verändert. Und da kann man dann nicht einfach sagen, das muss dann alles in der häuslichen Pflege passieren.
Frenzel: Aber Herr Neher, wenn Sie das beschreiben, die Veränderung der Arbeitswelt, die wir ja alle kennen, diese Verdichtungen, dass wir immer mehr gefordert sind, und dann gleichzeitig aber vorher gesagt haben, wir brauchen ein anderes Verständnis, ein größeres gemeinsames Zusammenleben auch mit den Alten, widerspricht sich das nicht komplett? Oder anders gefragt: Brauchen wir da nicht wirklich auch ein komplettes Umdenken bei dem, wie wir leben und arbeiten, auch die Jungen?
"Pflegebedürftigkeit hat Platz im Leben"
Neher: Ich denke, das ist natürlich immer leicht gefordert. Ich glaube, dass tatsächlich notwendig ist, dass wir in anderen Bezügen denken müssen. Und ich glaube, das, was Pflege angeht, kann eine Familie allein in Zukunft sicherlich nicht leisten. Aber es braucht so was wie nachbarschaftliche Unterstützung, wie Konzepte, die Freundeskreise mit einbeziehen. Das heißt, wir müssen den Bedarf an pflegerischer Unterstützung im Wohnquartier auch noch mal anders anschauen. Und da gibt es ja sehr gute Ansätze dafür, die tatsächlich häusliche Pflege, die die professionelle Pflege miteinander unterstützen, dass Menschen möglichst lange in ihrer gewohnten Umgebung leben können.
Und das setzt natürlich voraus tatsächlich – und da sind wir bei der gesellschaftlichen Debatte –, dass auch dieses pflegebedürftige Leben zu Recht einen Platz mitten in der Gesellschaft hat und eben nicht nur an den Rand geschoben wird. Und es ist kein Betriebsunfall des Lebens. Ich glaube, auch das ist so ein Punkt: Wir sind schon dabei, Pflegebedürftigkeit dann irgendwo so als einen Betriebsunfall abzulegen. Sondern nein: Das ist Teil der Lebensrealität heute. Und mit solchen Konzepten, wie ich es nannte, mit Nachbarschaftshilfe, Familienangehörigen, Freundeskreise plus professionelle Pflege, da, glaube ich, könnten wir das sehr deutlich machen, dass tatsächlich Alter Platz hat im Leben, und auch Pflegebedürftigkeit hat Platz im Leben.
Frenzel: Das sagt Prälat Peter Neher, er ist Präsident der Caritas. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!
Neher: Ich danke Ihnen, Herr Frenzel!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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