Pfarrer auf St. Pauli in Hamburg

Vielfalt als Reichtum

34:31 Minuten
Pfarrer Sieghard Wilm
Ist seit 17 Jahren Pfarrer auf St. Pauli: Pfarrer Sieghard Wilm. © CP Krenkler
Sieghard Wilm im Gespräch mit Ulrike Timm · 08.01.2019
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Die Gemeinde St. Pauli in Hamburg hat sich durch ihn zu einer der lebendigsten Gemeinden der Stadt entwickelt. Und mit Partner und Pflegekindern will Pfarrer Sieghard Wilm vorleben, wie Familie auch in der Kirche aussehen kann.
"Ich bin reichlich fromm aufgewachsen", sagt der Hamburger Pfarrer Sieghard Wilm über sein Elternhaus. Seine Eltern kamen als Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg nach Norddeutschland und fanden Halt in einer Freikirche. Sein Vater war neben seiner Arbeit als Tankwart selbst Prediger in der Gemeinde. Gottesdienst, Jungschar, Gebetsstunden – damit sei er großgeworden, sagt Sieghard Wilms.

Mit der Frömmigkeit des Elternhauses gebrochen

Trotzdem war der Berufsweg in die Theologie für ihn keineswegs vorgezeichnet. Er habe die Religiosität in seinem Elternhaus als Enge wahrgenommen. "Wir gingen in die Kirche und die anderen haben Fußball gespielt." Erst als er während des Zivildiensts mit psychisch kranken Menschen zusammenarbeitete, wusste er, dass er sich auf eigene Weise mit seinem Glauben auseinandersetzen musste.
Es habe für ihn eine Glaubenskrise gebraucht, um sich für das Theologiestudium zu entscheiden: "Ich musste mit der Frömmigkeit brechen, in der ich aufgewachsen bin." Das sei nicht nur für ihn, sondern auch für seine Eltern ein schwieriger Weg gewesen.
"Mein größtes Coming-out war tatsächlich zu sagen: Ich studiere Theologie. Weil ich mich damit auch bekannt habe zu einer kritischen Sichtweise auf Glauben, Kirche und Religion. Das war der größte Bruch, und er war auch für meine Eltern sicherlich schwer zu verschmerzen."

"St. Pauli ist immer mehr als das Klischee"

Neben der Theologie studierte Sieghard Wilm Religionswissenschaften und Ethnologie, immer auch auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage: "Wie wird anderswo auf der Welt geglaubt?" Er forschte in Ghana und beschäftigte sich mit der Voodoo-Religion auf Kuba. Seit 17 Jahren ist er nun Pfarrer auf St. Pauli. Menschen aus allen sozialen Schichten gehen heute in Pfarrgarten und Kirche ein und aus.
"St. Pauli ist immer wieder anders, immer wieder neu und vor allem immer anders als das Klischee ist." Neben dem, was jeder von St. Pauli im Kopf habe – "irgendwo zwischen Rotlicht und Blaulicht" – gibt es für ihn auch völlig andere Facetten im Kiez: Ein beinah dörfliches Leben mitten in der Großstadt, zu dem ganz natürlich dazugehört, dass man sich kennt und einander auf der Straße grüßt.
Die Vielfalt des Viertels spiegelt sich dabei auch in der Zusammensetzung der Gottesdienste in Sieghard Wilms Kirche wider – vom Durchschnittskirchgänger über Kreative, Akademiker, Obdachlose und Prostituierte. Gerade beim Abendmahl, wenn alle gemeinsam nach vorne gingen, sagt der Pfarrer, sei diese Vielfalt schön zu beobachten. "Das ist wirklich der Reichtum dieser St.-Pauli-Gemeinde."

"Es war spontane Hilfe"

Über die Stadtgrenze hinaus bekannt wurde die Kirche im Jahr 2013, als mehr als 80 Flüchtlinge aus Lampedusa dort Schutz suchten – zunächst im Kirchgarten.
"Dann fing es an zu regnen, ganz einfach. Und dann habe ich die Tür aufgemacht, nicht ahnend, dass daraus ein politisches Ringen wird über ein halbes Jahr. Das war nicht abzusehen und wir waren ja in keiner Weise vorbereitet. Es war spontane Hilfe."
*) Ein Freund seines Pflegesohns schloss sich der Terrormiliz IS an und starb. Als Wilm eine Trauerfeier für die Familie ausrichtete, hagelte es Kritik.

Neue Familienmodelle auch in der Kirche

Sieghard Wilm lebt mit seinem Partner und wechselnden Pflegekindern in der Pfarrwohnung und möchte damit auch ein Zeichen für ein neues Verständnis von Familie in der Kirche setzen. Auch bei der Themensynode der evangelischen Kirche, in der es im September um das Thema Familie gehen wird, will Sieghard Wilm für eine Offenheit gegenüber neuen und anderen Familienkonstellationen werben.
"Da wollen wir einfach die Vielfalt sehen und wahrnehmen und würdigen und Diskriminierung abbauen. Es ist doch ein Segen, dass wir so einen Reichtum haben. Da können wir uns doch drüber freuen."
(er)
*) Anmerkung: Wir haben den Text an dieser Stelle aus redaktionellen Gründen gekürzt.
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