Pfadfinderbewegung ausgezeichnet

Mit militärischen Wurzeln zum Friedenspreisträger

Katholische Pfadfinder beim Evangelischen Kirchentag vor dem Brandenburger Tor in Berlin
Pfadfinderbewegung heute anders als anno dazumal: "Mit dem verlorenen Krieg setzte wirklich ein Nachdenken ein." © dpa / picture-alliance / Lino Mirgeler
Susanne Rappe-Weber im Gespräch mit Julius Stucke · 14.07.2018
Obwohl die Wurzeln der Bewegung militärische sind, wird die Pfadfinderbewegung nun mit dem Internationalen Preis des Westfälischen Friedens ausgezeichnet. Zurecht, sagt Jugendkulturforscherin Susanne Rappe-Weber.
Julius Stucke: Wir kommen zu einer Kombination, die auf den ersten Blick vielleicht wirkt, als passe da was nicht zusammen: Den Internationalen Preis des Westfälischen Friedens bekommen in diesem Jahr die baltischen Staaten und die Pfadfinder. Aber wenn man bedenkt, dass die Pfadfinder eben nicht nur vereinzelte Naturfreunde sind, sondern eine ziemlich große weltweite Jugendbewegung, dann passen die beiden von der Größe vielleicht doch schon. Was aber immer noch nicht zu passen scheint: Die Wurzeln der Pfadfinderbewegung sind eher militärisch, und der Friedenspreis ist ein Friedenspreis. Susanne Rappe-Weber ist Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung. Guten Morgen!
Susanne Rappe-Weber: Guten Morgen!
Stucke: Die Pfadfinder werden dafür geehrt, dass sie zur friedensorientierten Entwicklung junger Menschen beitragen. Sehen Sie das so, tun sie das?
Rappe-Weber: Das kann man bestimmt von heute aus sagen, da hat sich über die letzten mehr als hundert Jahre eine Bewegung erst gebildet und dann entwickelt und etabliert, die wirklich alle Chancen dazu hat, jungen Menschen etwas mit auf den Weg zu geben, das die guten, friedensbewegten Bürgern macht in ihren Ländern, ja.
Stucke: Also sehen Sie kein Problem im militärischen Teil der Geschichte bei diesem Preis?
Rappe-Weber: Ja, das liegt ja schon eine ganze Weile zurück, und das ist eine Zeit der Imperien in Großbritannien, in England, da wo Baden Powell diese Idee entwickelt hat, aber auch in den anderen Ländern, in denen das aufgenommen worden ist. Und seitdem ist eine Menge passiert, und die Idee, die damals geboren wurde, die war eben im Kern sehr praktisch und sehr unideologisch im Grunde offen angelegt. Das ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass das erfolgreich sein konnte.
Stucke: Wie kamen denn diese militärischen Ideen überhaupt dann aus England zu den anderen Pfadfindern?
Rappe-Weber: Baden Powell hat das Ganze nicht nur erdacht und erprobt, sondern der hat ja sehr früh, 1907 schon, ein Buch veröffentlicht, "Scouting for Boys". Das war dann das Medium, mit dem diese Methode verbreitet worden sind, und das ist von einzelnen Ländern aufgegriffen worden. Ist gut, das hat erst mal mit dem Commonwealth zu tun, über diese englische Schiene, aber auch in Ländern wie Deutschland wurde das eben sehr früh, in unserem Fall auch von Militärangehörigen, gelesen, für interessant befunden, ins Deutsche übersetzt, auch für Mädchen übertragen und dann schlicht erprobt, und es hat funktioniert. So muss man das sehen.
Stucke: Jetzt haben sich aber die deutschen Pfadfinder ja dann irgendwann von den militärischen Wurzeln der Bewegung auch wieder abgewandt – weshalb?

Neuer Einfluss Wandervogel

Rappe-Weber: Die militärischen Wurzeln, wie gesagt, schon in dem Konzept von Baden Powell waren diese Spiele, die Übungen, die Wettkämpfe, die waren angelegt auf die Erziehung von Bürgern und letztlich nicht von Soldaten. Es ging darum, dass der junge Mensch sich selbst erziehen sollte und eben nicht angeleitet, gelehrt werden sollte. Und wie gesagt, diese Idee wird dann in Deutschland auch aufgegriffen, und natürlich hat das so einen militärischen Rahmen weiterhin. Es kommen andere Einflüsse dazu – Woodcraft ist so ein Stichwort, eine Idee, dass man so indianische Stammeserziehungsideen und Spiele mit aufgreift. Ja, und in Deutschland kommt dann noch ein Aspekt dazu, das ist der Wandervogel, also eine ganz eigene Jugendbewegung aus einer anderen Tradition heraus, die sich dann in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zu einem wichtigen Ideenfundus entwickelt für die Neuerfindung des Pfadfindens – so kann man das fast sagen, die nannten sich nämlich auch Neupfadfinder.
Stucke: Kann man denn auch sagen, dass die Erfahrungen eben der Weltkriege etwas geändert haben am Verständnis der Pfadfinder?
Rappe-Weber: Für Deutschland ist das ganz offensichtlich. Mit dem verlorenen Krieg setzte wirklich ein Nachdenken ein, einerseits. Und andererseits, diese praktische Isolierung, die sich Deutschland da auferlegt hatte, führte auch dazu, dass man die Bindung an die internationale Gemeinschaft, jedenfalls offiziell, dann auch sehr stark runtergefahren hat, sodass dieser Aspekt, wir müssen uns neu orientieren, auf jeden Fall auch eine Rolle gespielt hat, aber auch natürlich die Überwindung von Kriegen durch eine gute und andere Erziehung von Menschen. Auch das hat eine Rolle gespielt, war aber in Deutschland, muss ich leider sagen, nicht vorrangig.
Stucke: Und jetzt, heute in Zeiten von Individualismus, von Digitalisierung statt Natur quasi, würden Sie sagen, zeitgemäße Geschichte noch Pfadfinder oder irgendwie doch ein bisschen was Gestriges?

"Es wird praktiziert und ist dadurch erfolgreich"

Rappe-Weber: Also die Pfadfinderbewegung hatte sicherlich schwierigere Zeiten als heute, das Stichwort 1968 und die damit verbundenen Veränderungen, vor allem in der Rezeption solcher Traditionen des Auftretens in Kluft, der Anbietung von Lagern und solcher Spiele, das hat damals zu ganz neuen Irritationen und zu Kritik geführt. Und gemessen daran, so ist der Stand heute, bietet nun gerade dieses Pfadfinder-Erziehungskonzept gegenüber den, ja, Individualisierungstendenzen, der Medialisierung, Digitalisierung natürlich Möglichkeiten der Selbsterprobung für Jungen und Mädchen, die interessant sind, und die werden auch wahrgenommen. Es ist ja nicht so, dass das immer wieder neu gepredigt würde oder auferlegt würde, es wird ja gefunden, es wird praktiziert und ist dadurch erfolgreich.
Stucke: Also auch eine Art Gegenpol vielleicht. Jetzt gibt es eben diesen Friedenspreis – würden Sie sagen, weil preiswürdig eine Sache ist und man aber irgendwie auch Menschen erreichen muss, dass auch wirklich die Pfadfinderbewegung noch etwas ist, was in Deutschland und Europa viele Menschen erreicht?
Rappe-Weber: Nun bin ich an einem Ort tätig, an dem das sehr sichtbar ist, auf einer Jugendburg, die sich diesen Traditionen auch verschrieben hat und die hochhält, das ist aber tatsächlich sichtbar. Das sind natürlich keine großen Zahlen mehr, das war bei der Pfadfinderbewegung nie so, sondern das sind ja eher kleine Gruppen, aber in dem Rahmen, weltweit und dann eben doch an ganz vielen Orten präsent und in vielen Ortsgruppen und auf sehr niedrigschwelliger Ebene, funktioniert es, ohne dass jemand das sozusagen anleiten müsste. Das ist etwas, was tatsächlich durch die Anbietung, durch Erwachsene, in der Tradition, von Familien, die das kennen, weitergegeben wird und auch weiterlebt. Ja, genau.
Stucke: Susanne Rappe-Weber, Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung über Pfadfinder. Danke Ihnen!
Rappe-Weber: Vielen Dank auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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