Petra Pau: Demokratie wird "massiv bedroht"

Petra Pau im Gespräch mit André Hatting · 19.12.2011
Für Petra Pau von der Partei die Linke steht es schlecht um den Zustand der Demokratie in Deutschland: "Millionen sind von Wahlen ausgeschlossen, bei Volksabstimmungen ist Deutschland nach wie vor ein EU-Entwicklungsland und die Teilhabe bei Großprojekten sind eher die Ausnahme als die Regel".
André Hatting: Superwahljahr mit superschlechter Beteiligung. Volksentscheid zu Stuttgart 21 gescheitert, auch weil sich zu wenig Menschen dafür interessierten. Bankrotte Kommunen ohne demokratischen Handlungsspielraum, am finanziellen Abgrund gibt es nicht viel zu bestimmen. Tja, und dann ist da noch die EU, Brüssel bestimmt von der Krümmung der Banane bis zum Euro-Rettungspaket. Nur einige Beispiele für ein Sorgenkind, und das heißt Demokratie.

Warum wenden sich immer mehr Menschen von ihr ab? Ist die repräsentative Demokratie ein Auslaufmodell, braucht es neue Ideen für die Mitbestimmung? Das wollen wir in den kommenden zwei Wochen herausfinden mit einer kleinen Serie. Den Auftakt macht heute Petra Pau von der Partei Die Linke, sie ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und jetzt am Telefon. Guten Morgen, Frau Pau!

Petra Pau: Guten Morgen!

Hatting: Es ist kein Zufall, dass wir unsere Reihe mit Ihnen beginnen, denn Ihre Diagnose ist besonders drastisch. Unsere Demokratie sei krank, sie leide an Schwindsucht. Steht es so schlimm?

Pau: Ja, Sie haben die Stichworte eigentlich schon genannt: Wenn allgemein über Demokratie gesprochen wird, dann meist über die drei Klassiker, also Wahlen, Abstimmung, Teilhabe. Aber damit beginnen eigentlich schon die Probleme. Millionen sind von Wahlen ausgeschlossen, bei Volksabstimmungen ist Deutschland nach wie vor ein EU-Entwicklungsland und die Teilhabe bei Großprojekten oder durch Bürgerhaushalte sind eher die Ausnahme als die Regel. Das heißt, wir haben sehr wohl Grund, uns Gedanken zu machen.

Hatting: Wie meinen Sie das, wenn Sie sagen, Millionen sind von Abstimmungen ausgeschlossen?

Pau: Das beginnt beim Wahlrecht. Nehmen Sie nur die Menschen, welche keinen deutschen Pass haben, die an diesen Abstimmungen gar nicht teilnehmen. Aber wir haben natürlich auch gerade, wenn es um Großprojekte geht, gar keine Mechanismen, um überhaupt darüber abzustimmen. Also, wir brauchen hier grundsätzlichere Antworten. Deshalb habe ich einen Vorschlag von Professor Roth von der Universität Magdeburg mit sehr viel Aufmerksamkeit aufgenommen: Er hat allen Fraktionen des Deutschen Bundestages vorgeschlagen, eine Enquetekommission zur Revitalisierung der Demokratie einzurichten.

Hatting: Zunächst einmal, sozusagen als eine Art Vorstufe, haben Sie eine Querschnittsarbeitsgruppe im Deutschen Bundestag gegründet. Jetzt seien Sie mir nicht böse, Frau Pau, aber Querschnittsarbeitsgruppe, das klingt erst mal nach einem folgenlosen Selbstbeschäftigungszirkel für gelangweilte Parlamentarier.

Pau: Also, gelangweilt sind wir nicht, schon gar nicht in der Fraktion Die Linke. Diese Querschnittsarbeitsgruppe haben wir also in der Fraktion Die Linke gegründet, weil, klassisch werden Demokratiefragen immer beim Innen- oder Justizressort verortet, aber Sie haben ein Stichwort schon genannt: Wenn Kommunen verarmt werden, dann haben sie nichts mehr zu entscheiden. Das heißt, Haushalts- und Steuerpolitik ist auch demokratierelevant, oder aber, wenn es an Kultur und Bildung mangelt, wird es schwierig für die Demokratie. Insofern könnte man alle anderen Ressorts auch durchgehen. Deshalb befassen wir uns auch quer über die Ressorts mit diesem Thema.

Hatting: Was jetzt die Verarmung der Kommunen betrifft und damit der eingeengte Handlungsspielraum, da leuchtet mir das noch unmittelbar ein. Wenn wir aber jetzt über Volksbegehren, Volksentscheide sprechen, verstehe ich Ihre Sorge nicht so ganz. Denn seit Willy Brandt '69 gefordert hat "Mehr Demokratie wagen!", ist die Zahl der Volksbegehren schwunghaft angestiegen. Und gerade in diesem Jahr gab es ja einige Beispiele dafür, dass der Volksentscheid zumindest etwas ist, was viele Menschen interessiert und was auch als politisches Instrument benutzt wird.

Pau: Richtig. Aber wir haben in fast allen Bundesländern jetzt die Möglichkeit zu Volksentscheiden, auf Bundesebene sind wir da immer noch EU-Entwicklungsland. Also müssen wir schauen, dass das, was im Grundgesetz angelegt ist, dass nämlich Entscheidungen durch Wahlen und Abstimmungen fallen, auch auf Bundesebene durchgesetzt wird.

Aber wir sollten uns auch einfach mal den Zustand unserer Gesellschaft insgesamt ansehen: Ich empfehle allen Interessierten die Langzeitstudie "Deutsche Zustände" von Professor Heitmeyer. Er hat gerade in der letzten Woche den vorerst letzten Bericht vorgestellt und dieser heißt mahnend "Das entsicherte Jahrzehnt". Er sagt, es gibt drei dominierende Trends in unserer Gesellschaft, nämlich die Ökonomisierung des Sozialen, die Entleerung der Demokratie und eine allgemeine Entsolidarisierung, die sich eben auch darin ausdrückt, dass viele sich nicht mehr um den Nächsten kümmern.

Hatting: Und wie bekämpfen wir das?

Pau: Ich denke, das ist gesellschaftlicher Sprengstoff. Es wäre also sehr gut, wenn wir uns tatsächlich mit dem Zustand der Demokratie mit einer Enquetekommission im Bundestag befassen und gleichzeitig tatsächlich Teilhabe organisieren. Was für mich halt nicht nur heißt, Volksentscheide einzuführen, sondern beispielsweise beginnend tatsächlich von der Schule über die Kommunen bis hin natürlich auch zu großen Volksentscheiden, den Menschen Möglichkeiten zum Teilnehmen zu geben.

Hatting: Was genau, Frau Pau, könnte denn eine Enquetekommission des Bundestages wirklich erreichen?

Pau: Enquetekommissionen werden von Parlamenten eingesetzt, um Lösungen zu übergreifenden Fragen zu suchen. Das heißt, es arbeiten Abgeordnete und Sachverständige gemeinsam, möglichst ohne parteipolitisches Klein-klein. Wir haben zum Beispiel aktuell im Bundestag eine Enquetekommission "Internet und digitale Gesellschaft", da geht es auch um grundsätzliche Fragen. Die Demokratie ist eine grundsätzliche Frage, aber sie wird massiv bedroht auch durch die Einschränkung von Bewegungsspielräumen. Es gäbe also gute Gründe für den Bundestag, sich die Wiederbelebung der Demokratie ernsthaft, oder sich der Wiederbelebung der Demokratie ernsthaft und auch wissenschaftlich anzunehmen.

Hatting: Mit welchen Folgen? Zum Beispiel neuen Gesetzen?

Pau: Vielleicht auch neuen Gesetzen, zum Beispiel einem zur Einführung eines Volksentscheides. Aber ansonsten sollten wir vielleicht besser schauen, inwieweit vorhandene Gesetze tatsächlich auch zum demokratischen Miteinander beitragen, ich nehme mal ein ...

Hatting: ... zum Beispiel, ja ...

Pau: ... ich nehme mal ein Beispiel aus meinem Fachgebiet, das Thema Innenpolitik, das ist eigentlich paradox, dass das Bundesinnenministerium die Anwendung und die Durchschlagkraft seiner Gesetze selbst evaluiert, zum Beispiel die Antiterrorgesetze.

Hatting: Ich habe noch ein anderes Paradox, was mir einfällt, das geht auf die geringe Wahlbeteiligung, die wir einerseits haben, das haben wir in diesem Wahljahr ja erlebt, und andererseits gibt es aber ein unglaubliches politisches Mitteilungsbedürfnis, das sieht man in sozialen Foren in den Blogs des Internets. Und der Erfolg der Piratenpartei beispielsweise, den könnte man ja auch als eine Art Suchbewegung nach neuen demokratischen Ausdrucksformen sehen, oder?

Pau: Ganz gewiss. Offensichtlich sind die Piraten einerseits in soziale Milieus hineingekommen, die von den klassischen Parteien einschließlich der Linken bisher wenig abgedeckt werden, ich nehme die kreativen, aber auch prekär Beschäftigten, die weder den klassischen Gewerkschaftsstrukturen aufgeschlossen sind, noch den Parteien, aber auch die Frage der Kommunikation. Das heißt, dass an Parteiprogrammen, an bestimmten Dingen tatsächlich mitgearbeitet werden kann, ganz demokratisch und gleichberechtigt, da stellen sich Fragen sowohl für die Parteien als auch für die Demokratie insgesamt.

Hatting: Petra Pau war das, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages von der Partei Die Linke. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Pau!

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