Sabine Gruber: "Daldossi oder Das Leben des Augenblicks"

Im richtigen Moment den Auslöser drücken

Einsatzbereit: Ein Kriegsfotograf sitzt mit seiner Kamera auf einem Panzer.
Einsatzbereit: Ein Kriegsfotograf sitzt mit seiner Kamera auf einem Panzer. © dpa / picture alliance / Jahson Balogh
Von Jörg Magenau · 22.07.2016
Sabine Grubers Roman "Daldossi oder Das Leben des Augenblicks" erzählt die Geschichte eines ehemaligen Kriegsfotografen, der seine Vergangenheit nicht los wird. Eindrucksvoll zeichnet Gruber nach, wie schwer es ihm fällt, Schutzweste gegen Küchenschürze einzutauschen.
Bruno Daldossi war Kriegsfotograf in Bosnien, Afghanistan und im Irak und er hat Grausamkeiten gesehen, die er nicht wieder loswird. Mittlerweile ist er Anfang 60, in einer Art Rückzugserstarrung und – bei den Mengen, die er säuft – Alkoholiker.
Seine Freundin Marlis, eine Zoologin, hat ihn verlassen, ihre "Gelassenheitsreserven" wurden im Lauf der Jahre aufgezehrt. Und Daldossi kommt über diese Trennung nicht hinweg; er reist ihr hinterher nach Venedig, wo sie mit ihrem neuen Liebhaber lebt.
Die österreichische Autorin Sabine Gruber erzählt die eindrucksvolle Geschichte eines Vereinsamten, der in Kriegen seine Friedenstauglichkeit verloren hat. Es ist nicht leicht, die Schutzweste mit der Küchenschürze einzutauschen und Alltagsbelanglosigkeiten ernst zu nehmen, wenn man eben noch Kinder mit verstümmelten Gliedmaßen fotografiert hat.
Anteilnahme und Hilfsbereitschaft ist etwas, was sich der professionelle Fotograf verbieten muss. Aber wie kann so einer dann zu Hause wieder liebesfähig sein? Und: Muss man nicht eingreifen, handeln, helfen, anstatt nur Zeuge zu sein?

Mit der Autorin befreundeter Reporter starb im Kosovo

Das sind Fragen, die in diesem Roman zum Glück nie eindeutig beantwortet werden. Dass man liebt und ein Leben lebt in einer Welt voller Schrecken, ist nun mal eine Tatsache, mit der jeder auf seine Weise fertig werden muss.
Sabine Gruber hat sich damit schon lange auseinandergesetzt: Sie war mit dem "Stern"-Reporter Gabriel Grüner befreundet, der 1999 im Kosovo erschossen wurde. Die Trauer um diesen Freund und der Respekt vor seiner Arbeit grundieren diesen Roman und geben der Figur des Bruno Daldossi eine enorme Intensität.
Erzählt wird im Wechsel zweier Perspektiven: Außer Bruno, so cool wie verzweifelt, ist da noch Johanna, die nach Lampedusa reist, um eine Reportage über Mittelmeerflüchtlinge zu schreiben. Dieser Text ist dem Buch als Prolog vorangestellt – neben dem Bericht von einer Militärübung für Journalisten, wie sie sich im Minenfeld zu verhalten haben.
Diese grandiose, unsentimentale Reportage vom Sterben auf dem Meer beweist, was auch Daldossi mit seiner Fotografie erreichen möchte: Elend zu zeigen, ohne voyeuristisch zu sein. Seine Fotos sind als kurze Beschreibungen zwischen die einzelnen Kapitel geschaltet; Gruber übersetzt die Bilder in kleine Erzähl-Vignetten, die dem Liebesleben der Protagonisten einen doppelten Boden geben: Existenz und Geschichte.

Den Augenblick versäumt

Und während Johanna Bruno zu lieben bereit ist, geht es ihm darum, über Marlis hinwegzukommen. Das "Leben des Augenblicks", das der Titel verspricht, bezieht sich nicht nur auf die Kunst des Fotografen, im richtigen Moment den Auslöser zu drücken.
Eine Fähigkeit, die Daldossi im eigenen Leben abhandengekommen ist: Da verliert er sich in schmerzlichen Erinnerungen und wird von Kriegsbildern verfolgt, so dass er darüber den Augenblick versäumt.
Wie Sabine Gruber es schafft, diese Figur lebendig werden zu lassen in all ihrer verzweifelten Zerrissenheit, das ist große Kunst. Sie hat einen spannenden, klugen, gefühlsstarken Roman geschrieben, den man nicht vergisst.

Sabine Gruber: "Daldossi oder Das Leben des Augenblicks"
C.H.Beck, München 2016
316 Seiten, 21,95 Euro

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