Peter Sloterdijk: Spielräume eröffnen

Peter Sloterdijk im Gespräch mit Ralf Müller-Schmid · 02.06.2009
In einer "apokalyptischen Endspielsituation", in der sich die Welt derzeit befände, wolle er keine Heilsbotschaften verkünden, sondern Denkanstöße geben, so der Philosoph Peter Sloterdijk. Den Titel seines Bestsellers "Du mußt dein Leben ändern" hat er aus einem Rilke-Gedicht entlehnt.
Matthias Hanselmann: Heute Abend liest am Berliner Ensemble der Philosoph, Fernsehmoderator und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk aus seinem neuen Buch. Es trägt den Titel "Du mußt dein Leben ändern". Mein Kollege Ralf Müller-Schmid hat sich heute Vormittag mit Peter Sloterdijk zum Gespräch getroffen und sich zunächst nach dem ersten Satz des Buches erkundigt beziehungsweise diesen zum ersten Gesprächsthema gemacht.

Ralf Müller-Schmid: Der erste Satz Ihres neuen Buches "Du mußt dein Leben ändern" heißt nicht, du musst dein Leben ändern, sondern "Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt, das Gespenst der Religion". Wie kommen Sie zu der Diagnose?

Peter Sloterdijk: Ja, zunächst dadurch, dass ich nicht vergessen kann, wie vor gut 150 Jahren damalige Berufspropheten sich zu den kommenden Dingen verhalten haben. Damals ging ein Gespenst um, das hieß der Kommunismus. Und was Marx und Engels in den ersten Sätzen ihres kommunistischen Manifests ankündigen wollten, das war das Programm einer Umwandlung, eines Gerüchts, eines gespenstischen Gerüchts, einer Drohung in eine konkrete politische Bewegung. Das heißt, sie wollten aus einem Gespenst etwas Reales machen. Und an diesem Ehrgeiz knüpfe ich an, denn ich möchte eigentlich auch aus den Gespenster, die unter dem Namen Religion im Moment sozusagen um den Planeten spuken, auch etwas Reales machen.

Müller-Schmid: Das klingt aber so, wenn ich da einhaken darf, also Marx, Engels hatten ja eine positive Utopie im Sinne, wenn sie vom Gespenst sprachen, da war der Kommunismus ja das Gespenst aus der Sicht der herrschenden Klasse, gegen die sie angeschrieben haben. Machen Sie sich denn auch zum Fürsprecher einer neuen Religiosität?

Sloterdijk: Ich mache mich zum Vorsprecher eines neuen Verständnisses des Menschenwesens. Also ich argumentiere in dem ganzen Buch durchweg als Anthropologe. Ich sage, Menschen haben nicht nur wie alle Lebewesen biologische Immunsysteme, sondern sie haben auch ein soziales Immunsystem, das ist eigentlich das Rechtswesen oder das Solidarsystem, das den sozialen Zusammenhang gestattet. Und sie haben ein, wenn man so sagen darf, ein metaphysisches oder ein symbolisches Immunsystem, das ihnen hilft, die Weltoffenheit zu ertragen, das heißt, diese unerträglichen Mächte des Zufalls und der Sterblichkeit zu kompensieren und die Welt überhaupt bewohnbar zu machen als einen Ort, an dem nur eines gewiss ist, nämlich dass irgendwann Schicksalsschläge auf uns treffen. Das ist sozusagen die Sicht des Anthropologen auf das religiöse Phänomen. Und der Anthropologe hat noch einen zweiten Zugangspunkt, der die Konkretisierung seiner Sicht gestattet. Ich schlage ja vor, dass wir den Begriff der Religion aus dem Verkehr ziehen und uns stattdessen darauf verständigen, dass es hierbei immer um etwas geht, was mit Übung zu tun hat, nämlich mit der Einübung einer Lebenshaltung, die uns gefasst macht, im weitesten Sinne des Wortes gefasst macht auf das, was uns geschehen wird. Einerseits auf die Sterblichkeit, andererseits auf die Notwendigkeit, Trennungen zu verarbeiten, auf die Notwendigkeit, mit Schicksalsschlägen aller Art umzugehen, aber auch auf die Fähigkeit, das positive Schicksal, den Vorteil, das Glück so zu interferieren, dass man nicht verrückt wird dabei.

Müller-Schmid: "Du mußt dein Leben ändern", das ist ein berühmtes Zitat aus einem Rilke-Gedicht, "Archaischer Torso Apollos", wo er eine zerbrochene beziehungsweise nur noch in Teilen bestehende Statue beschreibt, und da diesen Imperativ ableitet aus der Betrachtung dieses Marmorkörpers. Warum Rilke, warum "Du mußt dein Leben ändern"?

Sloterdijk: Ich wollte mit einem Beispiel beginnen, das am wenigsten den antiautoritären Reflex provoziert, den man bei modernen Menschen fast universal voraussetzen darf. Also ich wollte ein Beispiel bringen für eine Erfahrung von ästhetischer Autorität, gegen die sich die moderne Seele nicht wehrt, nicht a priori wehrt. Deswegen habe ich Rilke das erste Wort gegeben und habe versucht zu zeigen, wie es bei ihm zuging, dass aus einer Statue, die einen seit 2500 Jahren erloschenen Gott abbildet, eine Ausstrahlung auszugehen scheint, die das ganze Leben des Betrachters verändert. Es ist eine Apollo-Statue, Götter und Athleten haben bei den Griechen immer eine Art Verwandtschaft miteinander. Ein Gott sieht immer wieder ein wenig aus wie ein Olympiasieger, und ein Athlet hat immer die Neigung, sozusagen in ein höheres Register überzugehen und unter die Sterne versetzt zu werden.

Müller-Schmid: Sie haben die Allergien angesprochen, die Zeitgenossen empfinden, wenn Imperative, irgendwelche Sollbotschaften an sie gerichtet werden. Ich wundere mich ein bisschen über die Diagnose, weil ich kann mir vorstellen, dass 1968 da eine große Empfindlichkeit, eine große antiautoritäre Empfindlichkeit geherrscht hat. Heute ist es doch viel eher so, jedenfalls mein Eindruck, dass alle möglichen Formen von Imperativen auf dem Markt sind. Der ganze Esoterikmarkt, die ganze esoterische Schwemme, die unglaublich viele Angebote in dem Sinne "Ihr sollt euer Leben ändern" macht, scheint mir doch eher dahingehend zu deuten, dass das gar nichts mehr ist, was sich so auf einen exquisiten Kreis ästhetischer Empfindsamkeit einengen lässt.

Sloterdijk: Also ich gehe von einer radikalen, modernistischen Interpretation des Zeitgeistes aus. Ich möchte nicht voraussetzen, was die Esoterikbewegung voraussetzt, nämlich dass die Menschen der Vernunft müde geworden sind und bereit sind, sozusagen dem erstbesten spirituellen Rattenfänger hinterherzulaufen. Sondern ich möchte, dass sie sozusagen bei ihren kritischen Empfindlichkeiten bleiben und sich sozusagen nur von dem überzeugen lassen, was in meinen Augen wirklich Autorität hat und in heutiger Sprache mit einer heutigen Stimme eine heutige Botschaft übermittelt. Der ganze Esoterikmarkt ist ja nichts anderes sozusagen als ein spirituelles Antiquariat.

Müller-Schmid: Deutschlandradio Kultur, Sie hören das "Radiofeuilleton". Wir sind im Gespräch mit dem Philosophen Peter Sloterdijk über sein neues Buch "Du mußt dein Leben ändern". Herr Sloterdijk, Rilke ist der Gewährsmann Ihres Buches, ein anderes Rilke-Zitat, ein berühmtes, lautet: "Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles." Wenn man das jetzt zusammen denkt mit dem Imperativ "Du mußt dein Leben ändern", könnte man sagen, na ja, selbst wenn uns das gelingen wird, wir haben keine Garantie, auch wenn wir unser Leben ändern, dass wir unbedingt dabei glücklich werden, weil von Sieg kann keine Rede sein, Überstehen ist das Motto. Wäre das nicht eine realistischere Option für die Zukunft?

Sloterdijk: Es ist ja bereits für uns eine Situation eingetreten, wo die Vertagung der Selbstzerstörung bereits als ein riesenhafter Erfolg wahrgenommen würde. Insofern gilt auch der zweite Satz buchstäblich. Von Siegen im Sinne einer großen Gestaltungsvision, wie der Kommunismus des 19. Jahrhunderts sie formuliert hat, kann heute ja nicht mehr die Rede sein. Also es geht gar nicht mehr um gestalten, sondern es geht darum, wie man das Datum der Selbstzerstörung ein wenig aufschiebt, um Spielräume für irgendetwas Gestaltungsartiges in der Zukunft noch zu eröffnen. Man muss das ganz ernst nehmen, weil jetzt zum ersten Mal so etwas wie eine apokalyptische Endspielsituation eingetreten ist. Wir haben immer geglaubt, die Apokalypse ist nur eine symbolische Struktur oder eine Schreibweise für Texte, mit denen Fanatiker sich selber aufputschen wollen. Wir bekommen aber inzwischen von unseren Freunden, den Meteorologen, von unseren Freunden, den Ozeanografen, von den Wirtschaftsstatistikern, von den Demografen aus allen möglichen Bereichen, in denen äußerst nüchterne Personen Forschung betreiben, wir bekommen von allen Fronten relativ gleichzeitig gleichlautende Hinweise darauf, dass im Augenblick die Krisenspannung an 20 Fronten gleichzeitig steigt.

Müller-Schmid: Haben Sie persönlich Zukunftsangst?

Sloterdijk: Dazu bin ich ein wenig zu alt. Die Alten lehnen sich zurück und sagen: Nach uns die Sintflut! Die Jungen haben zu einer Sintflut ein ganz anderes Verhältnis, weil es sie in ihren besten Jahren treffen würde.

Hanselmann: Über sein neues Buch "Du mußt dein Leben ändern", über marxistische und religiöse Utopien, über Autoritäten, Lebensentwürfe und die Sintflut: Peter Sloterdijk befragt von meinem Kollegen Ralf Müller-Schmid. Heute Abend liest Sloterdijk aus diesem Buch im Berliner Ensemble. Beginn der Lesung ist 20 Uhr und nach der Lesung gibt es noch eine Diskussion über den Bestseller mit dem Intendanten des BE, Claus Peymann.