Peter Burke: „Giganten der Gelehrsamkeit"

Universalgenies sind neugieriger als andere

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Buchcover von Peter Burke: "Giganten der Gelehrsamkeit. Die Geschichte der Universalgenies", Wagenbach Verlag, 2021.
Wissensdurst und Spieltrieb – diese Charaktereigenschaften hält Autor Burke für typisch, wenn es um Universalgenies geht. © Wagenbach Verlag / Deutschlandradio
Von Eike Gebhardt · 03.06.2021
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Der britische Historiker Peter Burke hat sich mit den Riesen der Geistesgeschichte befasst – mit den sogenannten Universalgelehrten, die sich für das Wissen ihrer Zeit in seiner ganzen Breite interessierten. Er fragt danach, was sie ausmachte.
Experten seien Menschen, die immer mehr über immer weniger wüssten, spottete der britische Schriftsteller Gilbert Chesterton. In unserer sogenannten ‚Wissensgesellschaft' freilich wächst das Wissen exponentiell – eigentlich schon seit dem 17. Jahrhundert, so der Cambridge-Historiker Peter Burke.
Wer heute sein Fachgebiet beherrschen will, dem versperrt schon die schiere Masse den Blick auf andere Gebiete – von Überblick über das gesamte zeitgenössische Wissen ganz zu schweigen. Selbst brillante Wissenschaftler erscheinen darum mitunter rührend provinziell erscheinen, ja naiv:
Sie können oft den Stellenwert des eigenen Wissens nicht einschätzen, geschweige denn in umfassendere Fragestellungen einordnen. Das sei heute auch nur noch selten ihr Ehrgeiz, so Burke.

Wissen als Gegenstand des Begehrens

Das war auch schon anders: Es gab sie, die sogenannten Universalgelehrten, die fast das ganze Wissen ihrer Zeit beherrschten und es auch oft zu einer Gesamtschau, einem einheitlichen Weltbild zusammendachten.
Diese auf Englisch "polymaths" genannten Individuen waren umfassend belesene und vor allem vielseitig interessierte Typen. Sie waren durchaus nicht immer Gelehrte, wie der deutsche Titel behauptet – und auch nicht unbedingt die Genies, die der Untertitel suggeriert.
Ihr unbändiger, nur selten von spezifischen Erkenntnisinteressen gesteuerter Wissensdurst, die oft zitierte "libido scientiae", fasziniert den Renaissance-Historiker Burke, vor allem, zumal Neugier im Laufe der Geschichte nicht immer als Tugend galt. In bestimmten Epochen war sogar das Gegenteil der Fall: Augustinus zum Beispiel wetterte gegen dieses – als Wissensdrang angeblich nur getarnte – Laster.
Burkes Beispiele hingegen, etwa 500, von Leonardo bis zu Susan Sontag, offenbaren eine Vielfalt an Motiven und biografischen Bedingungen. So versucht er mithilfe einer Charaktertypologie ein Grundmuster zu orten: Was sind das für Persönlichkeiten, welches Umfeld brachte sie hervor, förderte oder behinderte sie?

Es braucht eine Nische...

Ob die Eigenschaften, die er findet, seinerzeit wertneutral waren, Konflikte bargen oder auf anderen Gebieten, wie etwa im Handel oder in der Politik, ebenfalls angesagt waren, könnte eine wissenssoziologische Analyse klären. Auf deren Instrumente aber verzichtet Burke, er erwähnt den Ansatz lediglich beiläufig.
Statt also, wie angekündigt, die großen Zusammenhänge als Bühnenbild zu entfalten, präsentiert Burke eher kurze biografische Skizzen samt Bildungshintergrund und sozialer Laufbahn. Sein Fazit: "Mein zentrales Argument ist, dass Universalgelehrte nicht allein aufgrund ihrer Gaben reüssieren – zu den Voraussetzungen gehört eine Nische, die diesen Gaben entspricht."
Vom Ideal des "uomo universale" ist hier nicht die Rede. " Die Nischen seien jedoch seit der Renaissance fraglos geräumiger geworden, auch durch die Erleichterung der Kommunikation per Buchdruck.

...und Neugier

Den gemeinsamen Nenner, also den Zeitgeist, findet Burke dann aber doch in einer Handvoll individueller Einstellungen wieder, darunter so potente Begriffe wie "gelehrte Fantasie" – gleichsam ein Gegenprogramm zur bloß instrumentellen Vernunft, die der Historiker in der Moderne beklagt.
Die Fähigkeit zum "Multitasking" ist fast ein Pleonasmus in diesem Kontext. Überraschend oder nicht: Ein ausgeprägter "Spieltrieb" scheint in beinahe allen beschriebenen Personen unverkennbar. In der klassischen Wissenschaftstheorie scheint er dagegen kaum je auf.
Ob "Konzentration" dieser Freude am Spiel nicht gerade widerspricht – Ablenkbarkeit, Schweifen auf Tangenten, intellektuelles Nomadentum et cetera sind längst Gemeinplätze der Kreativitätsforschung – thematisiert Burke leider nicht.
Über allem jedoch thront die "Neugier" als Charakterform. Sie ist für Burke eine Art evolutionäre Urkraft und derart wichtig, dass er einen MPI-Forschungsbericht zitiert, der bei Kohlmeisen sogar ein "Neugier-Gen" nachweist.
Schade, dass Burkes eigenes emphatisches Programm, die Ideengeschichte gleichsam kulturökologisch im Zusammenhang mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu präsentieren, sich ein wenig im biografischen Klein-Klein verliert.
Alles in allem hat der Autor eine faszinierende Abenteuerreise durch die Schatzkammern der Wissensgeschichte geschrieben. Als Lesende gehen wir an der Hand der Entdecker – das ewig Neue zieht sie hinan.

Peter Burke: Giganten der Gelehrsamkeit. Die Geschichte der Universalgenies
Aus dem Englischen von Matthias Wolf unter Mitarbeit von Ursula Wulfekamp
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021
320 Seiten, 29 Euro

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