Perversion in Breughelland

Von Christian Gampert · 30.01.2010
Der spanische Regisseur Calixto Bieito spielt gern mit Sex- and Crime-Requisiten. Was in anderen Bieito-Inszenierungen oft aufgepfropft wirkte, ist bei György Ligetis "Le Grand Macabre" nun überzeugend eingesetzt: Die Anti-Anti-Oper wird am Theater Freiburg zu einem grotesk sexualisierten Karneval. Und die Freiburger Philharmoniker glänzen unter Jimmy Chiang mit gewalttätigen Klangkaskaden.
Unser Verhältnis zur Apokalypse ist heute ein entspannteres als zu Zeiten der Nachrüstungsdebatte Anfang der 1980er-Jahre. Damals nahm man den – qua Kernkraft und atomarer Abschreckung – angeblich nahenden Weltuntergang tierisch ernst; heute, mitten in den Unwägbarkeiten der Globalisierung, ist ein Stück wie "Le Grand Macabre" eher Anlass, sich über die Bizarrheit gesellschaftlicher Verhältnisse herzhaft zu amüsieren.

Die Bühnenfassung von Michel de Ghelderode steht in der Tradition des surreal-absurden Theaters und war in den 1970er-Jahren ein karnevalesker Knaller; die neutönende Anti-Anti-Oper gleichen Titels, die György Ligeti 1978 in Stockholm herausbrachte, spinnt die Jarry-haften Texte fort und parodiert vom Volkslied bis zur Arie, vom sakralen Liedgut bis zu den Opernchören des klassischen Repertoires fast alles, was dem Komponisten vor die Flinte kommt.

Dabei setzt Ligeti, der sich ja auch als Musikethnologe betätigt hat, von der – bedrohlich wirkenden – Cluster-Technik bis zu abstrakt-melodischen Zeichensprachen wie dem Morse-Alphabet (bei der Figur des Geheimdienstchefs!) musikalische Codes ein, die das Befremdliche des Ghelderode-Kosmos akustisch weiterentwickeln. Das ist einerseits hochartifiziell, aber innerhalb der Vereinbarungen abstrakter Tonalität hat es auch etwas Volkstümliches.

Der junge chinesische Kapellmeister Jimmy Chiang ist dafür der richtige Dirigent: Studierte Orchestermitglieder dazu zu bringen, Ligetis Introduktion mit Fahrrad-Hupen, eine Hup-Toccata, nicht nur musikalisch seriös, sondern auch mit Spaß an der Sache aufzuführen, das ist schon was. Im weiteren Verlauf des Abends wird wild getrommelt, geklingelt und gerasselt, und es werden gerade von den Blechbläsern differenzierte Klangwände wie Horrorkulissen aufgeschichtet, dass es eine makabre Freude ist.

Die Verabredung ist ja, dass hier ein großer Nonsense, ein wilder Spaß stattfindet, der die Regeln normalen Erzählens außer Kraft setzt. Das ist ein gefundenes Fressen für den katalanischen Regisseur Calixto Bieito, der in den Feuilletons zwar mit allen möglichen Blut- und Sperma-Epitheta versehen wird, im Grunde aber ein kleines, von der verrückten Erwachsenenwelt fasziniertes Kind ist, das möglichst bunt und bilderreich erzählen will.

Hier, im Kosmos des Absurden, kann er das, ohne dem Stück künstliche Wahrheiten aufzupfropfen (wie zuletzt bei seiner "Lulu" oder seinem "Don Carlos"). Seine Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat ihm eine Bühne gebaut, die aus lauter hölzernen Stelzen und Rampen besteht und in ihrer skelettierten Kargheit irgendwo zwischen Piscator und Beckett anzusiedeln ist. Das öffnet den Raum für wilde Verkleidungen (Kostüme Marian Coromina), die aus den Figuren Monster und Zombies machen.

Dieses "Breughelland", von Ghelderode nach dem Maler benannt, befindet sich in keiner bestimmten historischen Epoche, sondern in einer Phase des Wahnsinns: Kurz vor dem Weltuntergang will das korrupte Völkchen noch mal richtig einen draufmachen. Alles ist möglich, und alles ist Parodie. Es ist noch nicht einmal klar, dass der Sensenmann (bei Bieito tritt er zunächst auf als weißer Tod mit Hut und Federbusch wie in der flämischen Malerei) überhaupt der Herr Thanatos ist; vielleicht ist er auch ein simpler Betrüger, der sich mit der Ankündigung der Apokalypse nur wichtig macht.

Natürlich sind Bieitos szenische Mittel derb und bisweilen oberflächlich; nimmt man das Stück aber als großen Klamauk, dann ist das völlig angemessen. Bieito läßt den besoffenen Totengräber Piet vom Faß (der voluminöse Tenor Patrick Jones) gleich als rülpsenden Clown auftreten, der ein "Dies irae" intoniert – sein Kopf wird von dem großen Makabren dann mehrmals in ein thronartiges Klo getunkt und mit Kot beschmiert. Klare Ansage: die Vergänglichkeit, das ist eben auch Kloake.

Zweite Ansage: Dies wird ein obszöner Abend. Das Liebespaar mit den schönen Namen Clitoria und Spermando, das auf dem Friedhof um die Gräber schleicht, hat in seinem erotischen Getue zwar etwas Schülerhaft-Verdrucktes (was daran liegen mag, das hier zwei Frauenstimmen einander umgarnen müssen), dafür haucht die Clitoria der Jana Havranová dann die schönsten, flageolet-ähnlichen hohen Seufzer.

Das wahre Paar des Abends aber sind die walkürenartige Mescalina der Leandra Overmann und der Sterngucker Astradamors des Jin Seok Lee: Sie tritt zunächst als Nonne auf, um sich dann zur Domina zu wandeln; er ist ein bedauernswerter transvestitischer Ehemann mit Reizwäsche und hohen Hacken. Zumindest Overmann ist auch stimmlich den perversen Slalomläufen der Partitur gewachsen. Die beiden bilden ein Paar aus dem Kosmos bürgerlicher Bizarrerie, wie es von dem Filmregisseur Luis Bunuel immer wieder beschworen wurde.

Allerdings trägt Bieito dann ziemlich dick auf: Nachdem sie den Ehemann vergewaltigt (und mit einer Bohrmaschine wieder aufgeweckt) hat, wird die feiste Mescalina von dem Todesboten Nekrotzar (schon dieser Name: Nekro-Zar!), dem Großen Makabren, parodistisch von hinten penetriert. Dazu nutzt Bieito einen aufblasbaren, meterlangen Plastikpenis, der schlussendlich – wie bei einem Popkonzert – über die Köpfe des Publikums balanciert und von Zuschauer zu Zuschauer weitergereicht wird.

Das ist jene Art von Mitspieltheater, die vom ehrwürdigeren, sagen wir: vom schon emeritierten Teil des Freiburger Premierenabonnements nicht unbedingt geschätzt wird. Auch dass der Fürst Go-Go sich ausdauernd im Mittelgang suhlt, wird nicht gerade goutiert. Go-Go ist bei Bieito ein infantiler Transsexueller, der die Steuern erhöhen soll und stets eine Wagenladung Plüschtiere mit sich führt. Dafür singt Xavier Sabata, ein exzellenter Counter, die schwierige Rolle bravourös.

Großartig auch die Koloratursopranistin Lini Gong, die die wahnsinnigen Tonsprünge in der Partie des kirren Geheimdienstchefs souverän meistert. Am meisten Probleme hat noch der Große Makabre selber: Gabriel Urrutia zieht erstaunlich wenig Lust aus der dominanten Partie des Todesmeisters, er wirkt maskenhaft und ohne jeden Humor, und in den unteren Lagen wird es dann kritisch.

Sein Gewand besteht – gut subkulturell – aus schwarzem Latex, während die Venus aussieht wie ein Barbarella-Verschnitt und die beiden Minister wie Vorzimmer-Lobbyisten aus Berlin. Und da Ligeti musikalisch offensiv zitiert, zitiert auch Bieito hemmungslos: Man spielt mit der Weltkugel wie in Chaplins "Großem Diktator", am Schluss trieft das Blut des Vampirromans, und das Saufgelage zur Feier der (dann doch noch nicht anstehenden) Apokalypse ist eine Karikatur des Letzten Abendmahls - nur dass hier die Bierflaschen knallen, Blutsauger sich verbrüdern und zum letzten Stündlein eine Kuckucksuhr schlägt.

Ein gänzlich säkularisierter Weltuntergang also. Das Freiburger Philharmonische Orchester unter Jimmy Chiang beeindruckt vor allem in den perkussiven Passagen, es ist, von einzelnen Wacklern abgesehen, in den lyrischen Partien ebenso fein austariert wie in den gewalttätigen Ausbrüchen. Und die Inszenierung ist in ihrer prallen Buntheit eher ein Plädoyer für den Wahnsinn und das (lasterhafte) Leben denn eine Warnung vor dem nahendem Weltengericht - das können wir heute sowieso nicht mehr ganz ernstnehmen: nach dem Tod, da kommt nichts, und davor, so sagt uns Bieito, bewegen wir uns in einem großen Nonsense-Spiel.


Theater Freiburg
Le Grand Macabre
Oper von György Ligeti
Mit Übertiteln
Musikalische Leitung: Jimmy Chiang
Regie: Calixto Bieito
Bühne: Rebecca Ringst
Kostüme: Marian Coromina
Licht: Markus Bönzli
Dramaturgie: Dominica Volkert
Philharmonisches Orchester Freiburg
Opernchor des Theater Freiburg
Würzburg Zusatzchor
Freiburg Zusatzchor