Perfektes Doppelspiel

Rezensiert von Joachim Scholl · 15.06.2006
Admiral Wilhelm Canaris war der Chef von Hitlers Geheimdienst. 1945 wurde er als Landesverräter und Verschwörer hingerichtet, man rechnet ihn zum deutschen Widerstand, aber bis heute sind er und seine Rolle umstritten. Jetzt versucht eine neue Biographie, Licht in das legendenumrankte Dunkel dieses Offiziers zu bringen. "Wilhelm Canaris. Hitlers Abwehrchef" lautet der Titel des Buches, Autor ist der Journalist Michael Müller.
"Ich war kein Vaterlandsverräter. Ich habe als Deutscher meine Pflicht getan." Diese letzten Worte sind von Admiral Wilhelm Canaris überliefert, bevor man ihn am 9. April 1945 um sechs Uhr morgens im KZ Flossenbürg zum Galgen führte. Bis heute ranken sich Legenden um diesen Mann, der in Hitlers militärischer Hierarchie jahrelang das Vertrauen des "Führers" genoss, als Geheimdienstchef brillante Arbeit leistete, halb Europa mit einem dichten Netz von Agenten überzog – und doch anscheinend nichts anderes im Sinn hatte, Deutschland von diesem Diktator zu befreien.

Er war beteiligt an den – gescheiterten – Attentaten auf Hitler im März 1943, hielt unterstützenden Kontakt zu den verschiedensten Widerstandskreisen, half verfolgten Juden und konspirierte mit ausländischen Diensten und Diplomaten. In seinem Stab versammelte er Renegaten und Dissidenten, und dennoch verstand er es stets, jeglichen Verdacht von sich abzulenken. Befreundet mit dem SS-Schlächter Reinhard Heydrich. Auf gutem Fuß mit Heinrich Himmler, erweckte Canaris den Eindruck eines überzeugten Nationalsozialisten, bei Heydrichs Tod vergoss er echte Tränen. Erst der zufällige Fund von Akten, die seine Mitwisserschaft über das Attentat vom 20. Juli 1944 eindeutig belegten, brachte ihm Haft und Hinrichtung. Man soll ihm auf Anordnung Hitlers einen besonders qualvollen Tod bereitet haben.

Der 1887 geborene Sohn aus bürgerlichem Hause hat kaum persönliche, private Zeugnisse hinterlassen, was die Darstellung seiner Psychologie, seines Charakters und Wesens bislang erschwerte. Aussagen Dritter über ihn blieben widersprüchlich. Die einen stilisieren ihn zum Helden und Märtyrer, andere sehen in ihm den typischen Vertreter preußisch geprägter Offiziere, dem wie so vielen anderen Generälen sein Ehrenkodex die letzte Konsequenz zum Handeln nahm.

Seit Heinz Höhnes Biographie von 1976 haben sich indes zahlreiche internationale Archive geöffnet, und der Journalist und Autor Michael Müller nutzt das neue Material für eine beeindruckend detailgenaue Schilderung von Canaris‘ Karriere und Aktivität. Präzise recherchiert Müller den Werdegang, vom Seeoffizier des Ersten Weltkriegs über den rechtskonservativen Nationalisten, der die Weimarer Republik bekämpft, in dubioser Weise in den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verstrickt ist und Hitlers "Revolution" zunächst begrüßt, bis hin zum entschiedenen Gegner des Systems, der ab 1938 ein permanentes Doppelspiel betreibt.

Erstmals liest man von den komplexen Abläufen innerhalb von Canaris‘ Abwehrbehörde, dem Geflecht von Gestapo, SD und SS, in dem er überaus geschickt laviert. Müller verzichtet auf Interpretation, aber enthüllt zugleich die vielen Brüche und Paradoxien, die Canaris auch unter Widerständlern zu einer umstrittenen Figur machten. Die Rätsel lassen sich nicht lösen, doch wohl selten findet man sie so spannend beschrieben. Diese Biographie schließt etliche Lücken im Verständnis von Hitlers Machtapparat und wird für die künftige Forschung unentbehrlich sein. Wer aber der Mensch Wilhelm Canaris wirklich war, wird vermutlich immer ein Geheimnis bleiben.

Michael Müller: Canaris. Hitlers Abwehrchef
Propyläen Verlag
608 Seiten, 24,90 Euro