Peking

Chinas Generation 89

Junge Chinesen bei einem Musikfestival in Peking
Junge Chinesen bei einem Musikfestival in Peking © picture-alliance/ dpa / epa Michael Reynolds
Von Ruth Kirchner · 28.05.2014
Freiheit und Demokratie – das waren die Träume der jungen Chinesen, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens in China protestierten. Die junge Generation von heute träumt von der Eigentumswohnung, vom Auto und einem guten Job. Zugleich plagt sie tiefe Existenzängste.
Das Laoshe Teehaus südlich vom Platz des Himmlischen Friedens. Nur einen Steinwurf von hier entfernt demonstrierten vor 25 Jahren zehntausende Menschen für mehr Demokratie und Mitbestimmung, weniger Korruption, mehr Transparenz. Das große Teehaus wurde nur wenige Monate vor Beginn der Demonstrationen eröffnet und ist heute eine beliebte Touristenattraktion: Hier wird Peking-Oper geboten, chinesisches Theater und Crosstalk oder Xiangsheng, eine Art Stand-up-Comedy im Dialog.
Ab und zu tritt auch Wang Ning auf, ein Pekinger Xiangcheng-Komödiant, ansonsten ein typischer Vertreter der Generation 89, also jener Menschen, die vor rund 25 Jahren zur Welt kamen und in einer Stadt aufgewachsen sind, die die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens am liebsten vergessen würde.
"Ich habe als Zehnjähriger erstmals davon gehört. Meine Eltern erwähnten etwas, ohne ins Detail zu gehen. Auch meine Mitschüler sprachen manchmal von Schießereien und Unterdrückung. Ich war geschockt und konnte das gar nicht glauben. Heute denke ich, vermutlich sind diese Dinge wirklich passiert – aber ich weiß nicht warum."
Offen gesprochen wird über das Massaker so gut wie nie
So wie Wang geht es vielen jungen Leuten in Peking. Irgendwas haben sie gehört, doch offen gesprochen wird über die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung so gut wie nie.
Wang liebt den etwas platten Humor des Crosstalks, den Pekinger Dialekt, der für Zugereiste kaum verständlich ist. Auf der Bühne spielt er mit Worten, mit der Doppeldeutigkeit der chinesischen Sprache. Außerhalb des Theaters führt er das ganz normale Leben eines Mittzwanzigers: Er ist zwar Mitglied der Kommunistischen Partei, doch Politik, sagt er, interessiere ihn nicht.
"Wir reden nicht über Politik, wenn wir mit Freunden essen gehen. Das ist doch völlig sinnlos, nach all dem, was passiert ist. Unsere Generation hat die Freiheit, sich im privaten Kreis offen zu äußern. Aber über politische Dinge zu reden, macht keinen Sinn. Man kann ja doch nichts ändern. Unsere Generation ist mit einem starren politischen Modell aufgewachsen. Wir sind nicht rebellisch."
Eigene Wohnung, Auto, krisensicherer Job – das zählt bei jungen Chinesen
Wang ist Einzelkind und der Erste in seiner Familie, der einen Universitätsabschluss gemacht hat. Er hat Elektrotechnik studiert. Er arbeitet in einem Staatsunternehmen und lebt bei seinen Eltern in einer Dreizimmerwohnung. Er hat eine feste Freundin und würde gerne heiraten. Aber dafür fehlen ihm zunächst noch das Geld und die eigene Wohnung.
"Ich muss erst reich werden, bevor ich heiraten kann. Ich habe zwar ein Auto, aber keine Wohnung. Vielleicht würden unsere Eltern uns beim Kauf einer Wohnung sogar finanziell unter die Arme greifen – aber als Mann trage ich die Verantwortung."
Die eigene Wohnung, das eigene Auto, der krisensichere Job am besten in einem Staatsunternehmen – das zählt bei jungen Chinesen. Und dafür sind sie bereit, viel auf sich zu nehmen. Nicht nur Wang, sondern fast jeder junge Pekinger der Generation 89. Gerade die eigene Wohnung ist wichtig. Doch im Zentrum der Hauptstadt sind die Wohnungspreise in den letzten Jahren explodiert, liegen bei umgerechnet etwa 6000 Euro pro Quadratmeter und damit über dem Niveau von vielen deutschen Städten. Immer mehr junge Leute ziehen daher in die neuen Satellitenstädte im Umland.
Zum Beispiel nach Xianghe, 70 Kilometer südöstlich vom Pekinger Stadtzentrum entfernt. Breite Straßen, neue Hochhaussiedlungen, jede Menge Baukräne und Baulärm. In der Wohnanlage Lü Di – übersetzt "Grünes Land" – lebt Zhang Fayong mit seiner Frau. Zwei Zimmer auf 50 Quadratmetern im vierten Stock. Aufgewachsen ist er auf einem Dorf in Ostchina, in der Provinz Anhui. Zhangs Vater baut Reis und Weizen an, der Sohn hat sich in Peking als Wanderarbeiter vom Aushilfskellner zum Familien- und Hochzeitsfotografen hochgearbeitet und verdient mittlerweile genauso viel wie der Elektronikfachmann Wang, nämlich 6000 Yuan im Monat, umgerechnet 700 Euro. Auf seinem Dorf wäre das viel, in Peking kommt Zhang nur knapp über die Runden.
"Ich muss die monatliche Rate für die Wohnung zahlen, ich schicke jeden Monat umgerechnet 120 Euro nach Hause, außerdem brauchen wir was zu Essen und Kleidung. Daher bleibt wenig übrig. Vor allem meine Frau macht sich Sorgen, dass wir so gut wie nichts sparen können."
Auch die Generation 89 kämpft um ihre Zukunft – aber die eigene
Denn Zhang und seine Frau sind seit sechs Monaten Eltern einer kleinen Tochter, Zhang Panxi. Das kleine Mädchen lebt bei Zhangs Eltern auf dem Dorf. In Peking hätten sie niemanden, der sich um das Baby kümmern könnte, daher wird das Kind – wie in Millionen anderen chinesischen Familien auch – bei den Großeltern auf dem Land geparkt. Keine leichte Entscheidung für Zhang und seine Frau.
"Ich vermisse mein Kind. Ich habe sie nur kurz gesehen, nachdem sie auf die Welt kam. Vor allem meine Frau macht sich große Sorgen, dass unser Kind keine enge Bindung zu uns entwickelt. Aber mein Vater sagt, wir sind genetisch verwandt, das wird schon werden. Wir wollen das Kind zu uns holen, wenn sie zwei ist. Allerdings will meine Mutter auf keinen Fall nach Peking ziehen."
1989 kämpften die Demonstranten auf dem Tian'anmen für eine bessere politische Zukunft. Der damalige Idealismus ist Zhang und seiner Frau wie auch Wang und seiner Freundin völlig fremd. Auch sie ringen um ihre Zukunft – aber nur um ihre eigene. Sie träumen von einer besseren materiellen Absicherung, mehr Wohlstand. Zhang steht jeden Morgen um fünf Uhr auf, macht sich auf den langen Weg Richtung Peking, kommt meist erst abends um elf wieder nach Hause.
"Die meiste Zeit bin ich am Arbeiten. Ich habe selten Zeit, mich auszuruhen. Dazu der Druck, was die spätere Ausbildung meiner Tochter angeht. Wir hoffen, dass unser Kind später in Peking zur Schule gehen kann. Daher drängt meine Frau, dass wir mehr verdienen müssen. Sie macht viel Druck."
Zhangs Leben ist beherrscht von der Angst, den guten Job wieder zu verlieren, die monatlichen Ratenzahlungen über die nächsten 30 Jahre nicht leisten zu können. Politik findet in seinem Leben nicht statt.
"Wir reden nie darüber. Allen geht es nur darum, wie viel Geld sie jeden Monat nach Hause bringen. Wenn du weniger verdienst, wirst du verachtet. Viele geben mit ihrem monatlichen Verdienst an."
Unterricht in sozialer Verantwortung
In einer anderen Vorstadtsiedlung, weit im Westen von Peking, geht es ebenfalls ums eigene Fortkommen – und ums eigene kleine Glück. In einem modernen Konferenzgebäude sind mehrere Dutzend junge Leute zusammengekommen: junge Männer und Frauen auf der Suche nach dem Partner fürs Leben. Jeans, Kapuzenjacken und Turnschuhe bestimmen das Bild. Organisiert wurde das Treffen nicht von einer kommerziellen Partnervermittlung, sondern von einer Nichtregierungsorganisation. Sie kümmert sich um junge Angestellte, Leute wie Zhang und Wang und Millionen andere, die zwar im neuen China angekommen sind, sich aber irgendwie verloren fühlen in dieser neuen Welt, in der die alten sozialistischen Gleichheitsideologien nicht mehr gelten, in der neue Werte und Orientierungsmöglichkeiten aber fehlen. Yang Zi, die junge Leiterin der Gruppe, will das ändern und der neuen Generation der städtischen Angestellten wenigstens Eines beibringen: soziale Verantwortung.
"Wir kümmern uns zunächst um ihre Bedürfnisse – Partnersuche, psychologische Probleme. Das hat sich als sehr erfolgreich entpuppt, vor allem unsere Dating-Veranstaltungen sind sehr populär. Viele Leute mit positiver Energie kommen zu uns. Wir bieten Seminare an, die helfen sollen, den enormen Druck zu verringern, der auf vielen lastet."
"Nach der Universität stehen wir mit leeren Händen da"
Yang Zi, der Name ist ein Pseudonym, gehört selbst zur Generation 89. Die 25-jährige tritt auf wie eine junge Karrierefrau: modisches gelbes Jackett, schwarzer Rock, hochhackige Schuhe, sorgfältig lackierte Fingernägel. Ihr teures Smartphone und ihren Laptop-Computer hat sie immer dabei. Aber Karriere und Geld seien ihr nicht wichtig, sagt sie. Ihr geht es um gesellschaftliches Engagement. Und sie geht mit ihrer Generation hart ins Gericht:
"Ich finde, unsere Generation ist wie ein Frosch im warmen Wasser. Unsere Köpfe sind leer, wir haben keine eigenen Ideen. Unser Bildungssystem erlaubt es uns nicht, eigene Ideen zu entwickeln. Nach der Universität stehen wir mit leeren Händen da. Ich wünschte mir, jemand könnte uns mit neuen Ideen inspirieren, sodass wir lernen, uns zu artikulieren. Aber nichts passiert."
Erst im Laufe des Gesprächs verrät Yang Zi, wem ihre wahren Sympathien gehören. Sie ist eine aktive Unterstützerin von Xu Zhiyong. Der bekannte Bürgerrechtler hat jahrelang versucht, von innen heraus China zu verändern. Er wollte aus folgsamen Untertanen mündige Bürger machen, hat sich eingesetzt für das Recht auf Bildung für Wanderarbeiterkinder und für eine Offenlegung der Vermögensverhältnisse von Parteifunktionären. Seine "Bewegung neue Bürger" war den Behörden gleichwohl ein Dorn im Auge. Letztes Jahr wurde Xu verhaftet, im Januar zu vier Jahren Haft verurteilt. Auch Yang Zi wurde bereits von den Behörden verwarnt und zum "Tee trinken" eingeladen – ein Synonym für eine Vorladung zur Sicherheitspolizei.
"Es ist nicht leicht für mich, über diese Erfahrung zu sprechen. Nach der Uni war es mir total wichtig, mich sozial zu engagieren und ich verstand einfach nicht, warum ich dafür zurechtgewiesen werde. Ich konnte anfangs schwer akzeptieren, dass das, was ich in der Schule und an der Uni gelernt habe, mit der Realität nichts zu tun hat. Das hat mich total durcheinandergebracht. Wir haben jahrelang gelernt, dass Dinge entweder schwarz oder weiß sind. Erst jetzt weiß ich, dass es auch Grautöne gibt."
Schule, Uni, Eltern: Alle hatten das Thema totgeschwiegen
Die Erfahrungen mit den Sicherheitsbehörden haben Yang Zi tief verunsichert und ihre seit langem nagenden Zweifel am politischen System Chinas weiter verstärkt.
"Ich bin stolz darauf, Chinesin zu sein. Und ich bin stolz auf unser Land. Aber unser Land bedeutet ja nicht die Regierung. Ich will die Menschen verändern. Ich will, dass das Gute die Oberhand gewinnt. Ich kann das politische System nicht ändern, aber ich kann Einzelne verändern, die dann wieder andere Leute beeinflussen."
Über den 4. Juni 89 hat Yang erst vor einigen Jahren erfahren – als sie bei einem Besuch in Hongkong, wo deutlich mehr Freiheiten herrschen, als auf dem Festland, ein Mahnmal sah. Für die junge Frau, die sich in der Schule gerade für Geschichte besonders interessiert hatte, ein Riesenschock. Denn ihre Lehrer, ihre Eltern, die Professoren an der Uni – alle hatten das Thema totgeschwiegen. Erst durch ihre Kontakte mit Aktivisten wie X Zhiyong und seine "Bewegung neue Bürger" sei sie aufgewacht, sagt sie heute.
Orientierungssuche auch hier, in einer Pekinger Hauskirchengruppe mit Kontakten nach Südkorea. Der junge Zhang, der Wanderarbeiter aus Anhui, sucht in der Gemeinde ab und zu ein bisschen Rückhalt und Sinngebung. Auch ihn plagen Zweifel. Neben dem Druck der Ratenzahlungen für die Wohnung und der Sorgen um die Zukunft seiner kleinen Familie.
"Es gibt keine Religionsfreiheit in China. Ich könnte zwar in die staatlich sanktionierte Kirche gehen, aber dort werden die Priester vom Staat bestimmt und die Predigten zensiert. Ich kann mich zwar frei äußern, aber nicht in der Öffentlichkeit. Ich bin nicht stolz darauf, Chinese zu sein. Wir haben keine Bürgerrechte und kein Recht zu wählen oder gewählt zu werden. Wir haben keine Absicherung. Wenn ich meinen Job verliere, würde ich verhungern, das Land würde mir nicht helfen."
Keine Zeit für Proteste und Politik
Aber politisches Engagement – über den Besuch einer illegalen Hauskirche hinaus – kommt auch für Zhang nicht in Frage. Er könne ja eh nichts verändern, sagt er. Sicher: Die Studenten damals auf dem Platz des Himmlischen Friedens hätten Recht gehabt. Aber jetzt, wo er selbst eine Wohnung abzahlen muss, ein Kind hat und eine Frau, würde er – wenn es sie denn gäbe – bei Protesten nicht mitmachen. Er habe doch gar keine Zeit, sagt er. Er müsse arbeiten.
Wang Ning schließlich, das junge Parteimitglied und Fan des traditionellen Crosstalks hält Demonstrationen für das falsche Mittel, damals wie heute. Demonstrationen könnten Probleme nicht lösen, sagt er. Es gäbe andere Möglichkeiten.
"Ich bin Parteimitglied, ich glaube an die Partei. Es wird keine großen Umbrüche in China geben. Wir haben eine gute Zukunft vor uns. Seit unserer Kindheit wurde uns Optimismus und positive Energie vermittelt."
Außerdem hat auch er anderes zu tun: Mehr Geld verdienen, eine Wohnung kaufen, eine Familie gründen, endlich mal ins Ausland reisen. Der Druck, der auf ihm und seiner Generation laste, sei enorm, sagt Wang. Unter der Last der Erwartungen und der eigenen materiellen Ansprüche hat die Generation 89 für Politik und Protest einfach keine Zeit.
Mehr zum Thema