"Paul Spiegel war ein stiller, kluger Ratgeber"

Moderation: Matthias Hanselmann · 02.05.2006
Der Rechtsanwalt und Publizist Michel Friedman hat den verstorbenen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, als Brückenbauer und als Mann des Ausgleichs, der Versöhnung und des Dialogs gewürdigt. Ein Nachfolger müsse wie Spiegel auch ein politisches Sprachrohr sein, so Friedman.
Hanselmann: Noch vor knapp 14 Tagen hieß es, Paul Spiegel sei auf dem Weg der Besserung. Am Sonntagmorgen dann kam jedoch die Nachricht vom Tod des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Deutschlands Politiker haben sich erschüttert über den Tod von Paul Spiegel gezeigt. Angela Merkel sagte, Spiegel habe sich mit großer Leidenschaft und all seiner Kraft für eine gute Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland eingesetzt. Und Bundespräsident Horst Köhler nannte Spiegel einen deutschen Patrioten, dessen Rat ihm sehr fehlen werde. Was hat Paul Spiegel hinterlassen, was war seine Handschrift als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und welchen Herausforderungen wird sich Paul Spiegels Nachfolgerin beziehungsweise sein Nachfolger stellen müssen? Darüber sprechen wir jetzt mit Michel Friedman, der Rechtsanwalt und Publizist war bis zum Jahr 2003 selbst Mitglied im Zentralrat. Guten Morgen, Herr Friedman!

Friedman: Guten Morgen!

Hanselmann: Durch welche Verdienste wird Paul Spiegel als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland in Erinnerung bleiben?

Friedman: Vor allen Dingen seine menschliche Wärme, er war ein Brückenbauer im Buberschen Sinne, er war ein Mann des Ausgleichs und der Versöhnung, des Dialogs. Er hat immer wieder probiert, trotz vieler Rückschläge, sowohl in seiner Biografie, die Familie war von den Nazis verfolgt worden, als auch in der Gegenwart, wo leider Nazis in Deutschland offen und verdeckt immer noch ihr Unwesen treiben, er hat immer wieder versucht, das Vertrauen stärker als das Misstrauen zu empfinden. Er hat immer wieder versucht, die Hoffnung, dass die Bundesrepublik Deutschland diese Demokratie will und auch lebt, und das heißt, die Menschenrechte will und auch lebt, in den Vordergrund zu stellen. Er war ein Mann des unglaublichen Ausgleiches, und das ist schon etwas sehr Besonderes gewesen.

Hanselmann: Sie waren ja mit Paul Spiegel befreundet. Welche menschlichen Eigenschaften werden Ihnen in besonders in Erinnerung bleiben?

Friedman: Erst einmal seine unglaubliche menschliche Wärme, seine Zuverlässigkeit, aber auch seine unbedingte Loyalität. Er war ein stiller, kluger Ratgeber. Und er war ein Mensch, der sehr fröhlich war, der gerne Witze erzählt hat, der gerne Anekdoten erzählt hat, der gerne gelacht hat und der es immer wieder fertig gebracht hat, selbst in schwierigen, traurigen Situationen, das Licht scheinen zu lassen und nicht die Wolken immer stärker werden zu lassen.

Hanselmann: Während der Tod Paul Spiegels in Deutschland die Hauptnachricht des langen ersten Maiwochenendes war, hat in Israel ... nicht besonders viel ... ist nicht besonders viel Notiz davon genommen ... werden ... haben die Zeitungen nur ein paar dürre Zeilen darüber verloren. Was glauben Sie, woher das kommt?

Friedman: Nun, man muss sich darüber bewusst sein, dass das jetzt nicht ein Phänomen ist, dass Paul Spiegel betrifft, sondern das ist eine Tatsache, die mit allen auch anderen Führungspersönlichkeiten des jüdischen Lebens in Europa und in der Welt zu tun hat. Die Israelis haben einen sehr starken Fokus auf sich, auf den Nahen Osten, auf ihre Probleme. Aber Paul Spiegel ist auch in Israel ein sehr geachteter Mann gewesen. Er war mit dem Präsidenten des Staates Israel, Katzav, in sehr engen Verbindungen. Also auch ein Mann, der deutlich gemacht hat, dass ohne Israel eine jüdische Diaspora überhaupt nicht existieren kann. Wir können als Juden bewusst und selbstbewusst ein Teil des jeweiligen Landes sein, in dem wir leben, also auch in Deutschland, weil wir keine physische Angst mehr haben müssen, dass, wenn der Antisemitismus stärker wird, wie beispielsweise in Russland oder in anderen Ländern, es diesen Staat Israel gibt, der uns immer physisch retten und helfen wird auch wie beispielsweise ein Russland. Und so gesehen war es ihm sehr bewusst, welche Bedeutung der Staat Israel auch für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland hat.

Hanselmann: Sowohl Ignatz Bubis als auch Paul Spiegel waren ja angetreten, Sie haben es eben selber gesagt, um mehr Normalität ins deutsch-jüdische Verhältnis zu bringen, Paul Spiegel wollte, Zitat, "nicht der Moralapostel für Deutschland sein", ist aber auch des Öfteren in diese Rolle gedrängt worden. Man hat den Eindruck, dass es gar nicht anders geht, als dass die jeweilige Präsident zur moralischen Instanz wird, ob er will oder nicht, indem er zum Beispiel durch die Medien dazu gemacht wird. Lässt sich das überhaupt verhindern? Kann ein Nachfolger damit anders umgehen?

Friedman: Es ist noch zu früh, um von Normalität zu sprechen. Noch leben Opfer, noch leben Täter, wenn auch in hohem Alter unter uns, noch sind die Wunden, die der Holocaust dem Judentum angetan haben, nicht verheilt, und die Narben sind gerade am entstehen. Und wir müssen uns darüber bewusst sein, dass dies ein Prozess ist, der Zeit braucht, und wir brauchen Geduld. Umso mehr, als dass diese Wunden und Narben leider auch aufgerissen werden durch gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland. Nach einer Umfrage der Leipziger Universität haben 20 Prozent aller Deutschen gesagt, ein jüdischer Nachbar wäre ihnen unangenehm. Diese gleiche Zahl um 20 Prozent bekundet auch in anderen Umfragen antijüdische und rassistische Ressentiments, also Gefühle, und ich glaube, dass dies dem Judentum immer wieder, auch heute noch, bewusst wird. Dass wir zwar eine Grundlage, eine Plattform geschaffen haben, in der wir sagen können, diese Bundesrepublik Deutschland ist eine stabile Demokratie einerseits, aber die Vergangenheit ist in ganz kleinen Teilen, aber denn doch auch noch ein Stück in unserer Gegenwart. Und daraus entsteht natürlich in der Aktualität immer dann, wenn Antisemitismus und Rassismus heute bemerkbar wird, dass die jüdische Stimme besonders in den Vordergrund, wie Sie selbst sagten, vor allen Dingen durch die Medien gezwungen wird, sich zu äußern. Dies ist ein Prozess, der in den nächsten Jahren wahrscheinlich nach wie vor unvermeidbar ist. Das Ziel ist allerdings nicht die Frage, ob der Präsident des Zentralrats oder die Präsidentin eine moralische Instanz ist, sondern das Ziel ist, dass wir in einem Deutschland leben, wo wir nicht mehr die Notwendigkeit haben, über gegenwärtigen Antisemitismus und Rassismus in unserm Land zu sprechen.

Hanselmann: Vor diesem Hintergrund, Michel Friedman, vor welchen Herausforderungen steht Paul Spiegels Nachfolger oder Nachfolgerin?

Friedman: Die wichtigste Herausforderung ist, die enorm gewachsene jüdische Gemeinschaft, die so schnell gewachsene jüdische Gemeinschaft, die sich immerhin vervierfacht hat von 30.000 im Jahr '89 auf 120.000 in der Gegenwart, zu integrieren, sie handlungsfähig werden zu lassen und den vielen Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, jüdische Identität, jüdisches Wissen, aber auch jüdische Kenntnis über Religion zu vermitteln und diesen enormen Schub auch an Neugründungen von jüdischen Gemeinden zu einer stabilen Plattform jüdischen Lebens für die Zukunft zu bringen. Also die innere Arbeit ist außerordentlich wichtig. Zum anderen ist es aber auch wichtig, weiterhin ein politisches Sprachrohr für die jüdische Gemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu sein und zu bleiben. Eine Stimme mit Bedeutung, eine Stimme, auf die man Wert legt. Und drittens ein Bestandteil in der Diskussion Deutschlands zu bleiben, dass dieses Deutschland eine multikulturelle, multiethische, multireligiöse Gemeinschaft sein will, denn sie ist es, und hier die konstruktiven Impulse zu setzen, in der Debatte. Ein Letztes, der Trialog der monotheistischen Weltreligionen Christen, Juden und Moslems ist eine der herausragenden Arbeiten, die die drei Religionsgemeinschaften in Deutschland zu leisten haben, um die Befriedung der Gesellschaft nach vorne zu bringen.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen mit Michel Friedman, Rechtsanwalt und Publizist, und bis zum Jahr 2003 selber Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland. Herr Friedman, einige Zeitungen sprechen von einer Zäsur bei der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands. Paul Spiegels Lebenslauf war noch geprägt von der Erinnerung an die nationalsozialistische Terrorherrschaft. Sie haben es selber gesagt, er war selbst Opfer von Verfolgung. Paul Spiegels Nachfolgerin beziehungsweise Nachfolger, so heißt es, könne nicht mehr auf diese Zeitzeugenschaft zurückgreifen. Wie beurteilen Sie diese Einschätzung?

Friedman: Also, sie entspricht nicht den Tatsachen. Die Vizepräsidentin des Zentralrats, Charlotte Knobloch, ist ebenfalls eine Überlebende des Holocaust. Aber wir werden sehen, wer der Nachfolger wird. Zum heutigen Zeitpunkt diskutieren wir dies nicht in der jüdischen Gemeinschaft. Paul Spiegel ist gerade wenige Tage tot. In einem Judentum ist es eine Tradition, einen Trauermonat einzulegen, und in dieser Zeit gebührt die volle Aufmerksamkeit dem verstorbenen Paul Spiegel, diesem wunderbaren Menschen und nicht jetzt die Spekulation, wer sein Nachfolger werden wird. Dies werden die Gremien zu gegebener Zeit anfangen zu diskutieren.

Hanselmann: Wann haben Sie Paul Spiegel zum letzten Mal gesehen?

Friedman: Ich habe Paul Spiegel zum letzten Mal kurz vor Winterferien gesehen, also im Dezember.

Hanselmann: Michel Friedman, könnten Sie sich vorstellen, im Zentralrat der Juden in Deutschland wieder mehr Verantwortung zu übernehmen? Paul Spiegel konnte sich das vorstellen.

Friedman: Ich habe gerade gesagt, heute geht es nicht um Michel Friedman oder um wen auch immer, heute geht es um Paul Spiegel und auf den wollen wir uns heute konzentrieren.

Hanselmann: Vielen Dank, Michel Friedman, Rechtsanwalt und Publizist, für das Radiofeuilleton von Deutschlandradio Kultur. Danke schön!