Paul Nolte: Bundesregierung verfehlt eigene Ziele

Moderation: Korbinian Frenzel · 19.07.2013
Der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag von 2009 habe in der Bundespolitik keine großen Spuren hinterlassen, meint der Historiker Paul Nolte. "Dieses Programm ist wegkatapultiert worden durch die Einschläge von außen", sagte er mit Blick auf die Finanz- und Eurokrise.
Korbinian Frenzel: Tja, 1988, da lag der Wind des Wandels also schon in der Luft, ein Wind, der unser Land so schön durcheinandergewirbelt hat, dass eine Sache heute eine Selbstverständlichkeit ist: dass nämlich eine Frau aus der ehemaligen DDR das wiedervereinigte Land regiert. Angela Merkel ist seit acht Jahren Kanzlerin, seit vier Jahren an der Spitze einer schwarz-gelben Koalition. Heute wird Bilanz gezogen, Merkel tritt vor die Hauptstadtpresse.

Bevor sie sich erklärt, wollen wir mal etwas klären, nämlich die Frage, wie sehr diese Frau mit ihrer Regierung dieses Land geprägt hat. Im Interview jetzt der Historiker Paul Nolte, Professor an der Freien Universität Berlin. Guten Morgen, Herr Nolte!

Paul Nolte: Ja, schönen guten Morgen!

Frenzel: Ja, wenn wir diese Bilanz mal ziehen: Hat Angela Merkel dieses Land geprägt – oder ist es eher andersrum? Haben die Verhältnisse dieser Regierung die Agenda diktiert?

Nolte: Also zweifellos hat Angela Merkel dieses Land geprägt, das gilt ja noch mehr für die Partei, der sie vorsteht seit weit mehr als einem Jahrzehnt, und zwei Legislaturperioden als Kanzlerin, das ist schon was. Aber die letzte, die schwarz-gelbe Legislaturperiode, auf die wir jetzt zurückblicken, da fällt mir auch als erstes so ein bisschen das Motto des Volksmundes ein: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Denn das, was diese Koalition sich 2009 vorgenommen hatte, davon ist nicht sehr viel am Ende auch zu sehen. Andere Dinge sind ihr auf den Weg gekommen.

Frenzel: Sie sagen, was sie sich vorgenommen hatte – wenn wir über Rot-Grün sprechen, dann sprechen wir ja wie selbstverständlich von einem Projekt, von einem rot-grünen Projekt. Bei Schwarz-Gelb kommt einem das gar nicht so richtig über die Lippen. Hatte Schwarz-Gelb jemals so etwas wie ein Projekt?

Nolte: Ja, ein bisschen schon, jedenfalls im Selbstverständnis. Das war ja 1982 noch so, bei dem großen Regierungswechsel, Ende der sozialliberalen Koalition: Helmut Schmidt wird abgelöst durch Helmut Kohl. Und da war die Wende, nicht die, die wir jetzt mit 1989 assoziieren, sondern diese konservative Wende als ein dezidiert programmatisches Projekt auch ganz groß auf den Fahnen und alles sollte anders werden und die Linken eingedämmt werden, gesellschaftspolitisch und ökonomisch umgesteuert werden, möglicherweise auch außenpolitisch etwas anders laufen.

Damals war es schon so, dass am Ende dann doch – man erkannte das nach kurzer Zeit im Grunde schon – dann Kontinuität vorherrschte. Kohl war im damaligen Kontext nicht Thatcher in Großbritannien und auch nicht Ronald Reagan. Und das ist eigentlich fast immer auch die Politik von Konservativen, von CDU-Kanzlern und -Kanzlerinnen gewesen: Kontinuität herrscht vor. Und das gilt jetzt auch so. Wahrscheinlich war Angela Merkel, in diesem Fall die CDU-Kanzlerin, sogar mehr auf Kontinuität bedacht, als es dem Koalitionspartner, der FDP in diesem Fall, lieb gewesen wäre.

Frenzel: Ja, Guido Westerwelle hat das ja damals aufgenommen, dieses Kohl-Wort, hat dann von der geistig-politischen Wende gesprochen, als es 2009 losging. Was war denn los mit Angela Merkel? War sie durch die vier Jahre mit der SPD in der Großen Koalition einfach so auf Konsens gepolt?

Nolte: Also zunächst einmal kann man auch sagen, dass Guido Westerwelle und die FDP sich ein Stück weit getäuscht hat. Und diese Täuschung Westerwelles und der FDP ist dann nicht zuletzt auch für den massiven Absturz – das Zerkrümeln der FDP, die sich jetzt ja nur gerade mühsam wieder an die Fünf-Prozent-Hürde heranarbeitet in den Umfragen – oder gelegentlich darüber auch verantwortlich gewesen, nämlich die Erwartung, man könnte jetzt noch einmal so etwas machen wie so eine geistig-moralisch, geistig-politische Wende, auf die man gemeinsam ja, wenn sich Schwarz und Gelb in die Augen geschaut hatten, schon seit 2005 gelauert hatte, seit 2002 sogar schon gelauert hatte.

Damals unterlag Stoiber relativ knapp, Schwarz-Gelb hat nicht geklappt. 2005 nächster Versuch – wieder nicht geklappt, es gibt die Große Koalition. Ich glaube, Angela Merkel wusste 2009 sehr gut, dass tatsächlich dieses Wendeprojekt nicht mehr anstand. Daran glaubte noch Westerwelle. Die Große Koalition trägt dafür einen Gutteil Verantwortung. Es gibt in der Geschichte der letzten zehn, 15 Jahre eben eher so etwas wie einen Kontinuitätsprozess. Den Anker davon bildet tatsächlich Rot-Grün, bilden die Agenda-Reformen. Diese Reformen sind das Fundament, auf dem tatsächlich … Auch wenn das paradox klingt: Dieses rot-grüne Fundament, das ist das Fundament, auf dem auch Angela Merkel jetzt in der zweiten Legislaturperiode gestanden hat.

Frenzel: Was bleibt denn dann von der Union – nur, dass sie eine gute, pragmatische Regierungspartei ist?

Nolte: Eine gute, pragmatische Regierungspartei ist sie im besten Falle immer schon gewesen und wollte eigentlich nie eine besondere Programmpartei sein. Nun ist ihr ja aber eben noch dazwischen gekommen, dass eine Außenagenda, eine ganz andere Agenda als die Agenda 2010, den Kalender dieser Legislaturperiode diktiert hat, spätestens seit dem Frühjahr 2011.

Ich musste mir gerade selber auch noch mal in Erinnerung rufen, dass die Überschrift über dem Koalitionsvertrag lautete: "Wachstum, Bildung, Zusammenhalt" im Herbst 2009. Nun ist das mit Titeln von Koalitionsverträgen immer so eine Sache, aber diese Stichworte Wachstum, Bildung, Zusammenhalt deuten ja noch mal an: Aha, da hat man sich eigentlich eine sehr stark innen- und gesellschaftspolitische Agenda vorgenommen. Und dieses Programm, ja, innerer Zusammenhalt der Gesellschaft, Bildungsreformen, ökonomisches Wachstum, Prosperität, das ist eben wegkatapultiert worden durch die Einschläge von außen, die, ja, sozusagen Finanzkrise 2 mit der Eurokrise, Staatsschuldenkrise, Rettungsschirm Griechenland, dann der nächste Einschlag – das war fast gleichzeitig alles – Fukushima, 11. März 2011, Energiewende, Atomausstieg in der Konsequenz, und nicht zuletzt auch in denselben Wochen der Arabische Frühling und der Versuch, damit umzugehen, zu diesen Bewegungen am Südrand des Mittelmeers ein Verhältnis zu finden.

Frenzel: Wir sehen: Angela Merkel kann mit all diesen Kurswechseln ganz gut umgehen. Wie ist es denn mit ihrer Partei, wie ist es mit der Union? Ist das nicht zu viel für eine Partei, wenn man derart den Kurs wechseln muss innerhalb von nur wenigen Jahren?

Nolte: Also manche dieser Kurswechsel sind der Partei schon hart angekommen. Das gilt für die Energiewende, für den Atomausstieg – da wurde ja nicht viel diskutiert. Dieses Muster hat sich in allerjüngster Zeit ja auch noch einmal gezeigt, da wurde dann über die Homoehe gestritten, na ja, und dann war es doch das Bundesverfassungsgericht, das einen Maßstab gesetzt hat – und flugs war die CDU/CSU-Fraktion dann dabei, das nachzuvollziehen und schnell wurde es dann auch schon unter dem Eindruck des Wahlkampfs und der Gefahren, die da sonst lauern könnten, dann schnell eingetütet.

Ich glaube aber, dass ist doch ein längerfristiger Prozess und letztlich, glaube ich, auch ein Prozess, mit dem Angela Merkel in vieler Hinsicht das Bestmögliche tut. Man kann eine konservative Partei, erst recht eine konservative Partei, eine Partei mit konservativem Selbstverständnis nicht irgendwo einfrieren bei dem Stand, der mal 1980 oder 1950 da gewesen ist, sondern muss mit der Zeit gehen. Und die Umfrageergebnisse – ob es auch das Wahlergebnis ist, werden wir ja sehen – geben ihr recht, sich als Partei der Mitte, die auch sozusagen für moderat-moderne Kräfte wählbar ist, sich zu positionieren. Die alte, konservative Fraktion, Leute, die man früher als Stahlhelm-Fraktion in der CDU bezeichnete, deutsch-nationale, gesellschaftspolitisch hart Konservative wie Alfred Dregger, die spielen längst keine Rolle mehr, die gibt es nicht mehr.

Frenzel: So sagt es der Historiker Paul Nolte. Das Gespräch mit ihm haben wir aufgezeichnet.

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