Paul Harding - "Verlust"

Über die Wucht der Verzweiflung

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Der Schriftsteller Paul Harding wurde 1967 in Massachusetts geboren. © imago/Leemage
Von Edelgard Abenstein · 17.06.2015
In seinem zweiten Roman "Verlust" schreibt Paul Harding die Geschichte seines Erstlings fort. Der Leser muss den Vorgänger nicht kennen, um in den Roman einzusteigen. Im Zentrum steht Charles Crosby, für den mit einem Schlag das Leben anders wird: Mehr als der Niedergang eines Mannes.
Ungewöhnlich genug, wenn Debütanten den angesehensten Literaturpreis der USA, den Pulitzerpreis, gewinnen. Das gelang Paul Harding 2010 mit seinem Erstlingsroman "Tinkers". Darin zeichnet er die Erinnerungen des sterbenden George Crosby nach, eines Uhrmachers in einer Kleinstadt Neuenglands um die vorletzte Jahrhundertwende. Der zweite Roman "Verlust" schreibt die Geschichte der Familie Crosby fort, wobei man den Vorgänger nicht unbedingt kennen muss, um in den neuen Roman einzusteigen.
Hoffnungslose Verzweiflung
Im Zentrum steht Georges Enkel, Charles Crosby, der sich als Gelegenheitsgärtner durchschlägt und mit Frau und Kind ein beschauliches Leben führt, bis mit einem Schlag alles anders wird. Bei einem Fahrradunfall stirbt seine einzige Tochter, eine Tragödie, die ihn in hoffnungslose Verzweiflung stürzt. Er betäubt sich mit Alkohol und Schmerzmitteln. Als ihn kurz darauf die Ehefrau verlässt, verliert er vollends jeden Halt. Er hört auf zu arbeiten und versinkt in Einsamkeit, Sucht und Verwahrlosung. Ein Jahr lang.
Harding schildert dieses Jahr konsequent aus der Perspektive seiner Hauptfigur; es ist der Weg eines Trauernden, der ganz nach unten führt. Minutiös werden die einzelnen Stationen wie auf einer Abwärtsspirale nachgezeichnet. Vom lähmenden Zorn auf ein unbegreifliches Schicksal über kriminelle Taten - Crosby bricht in Nachbarhäuser ein, um sich Drogen zu verschaffen - bis zum misslingenden Selbstmordversuch.
Subtil-einfühlsame Schilderung
Das liest sich wie ein gnadenloser Rechenschaftsbericht über die Wucht der Verzweiflung, die nur in der Hölle enden kann, und das klingt nach einer ziemlich deprimierenden Geschichte. Aber "Verlust" ist mehr als die Geschichte vom Niedergang eines Mannes. Die Stärke des Buches liegt in der subtil-einfühlsamen Schilderung einer anrührenden Vater-Tochter-Beziehung.
In einem Strom von Erinnerungen kehrt die Tochter wieder, als Siebenjährige, der der Vater die Angst vor dem Kohlmeisentrio nahm, das sich körnerpickend auf ihrem Handteller niederließ; die Zwölfjährige, die ihn bei ihrem ersten Dauerlauf abhängte, während er sich vorkam wie ein "schweißgetränkter Mops", die fachmännische Kommentatorin des Red-Sox-Spiels im Fernsehen, am Abend vor ihrem Tod.
Voller Humor und Lakonie
Wie Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen die Erinnerungen an die Tochter mit denen des Vaters an die eigene Kindheit, an den Uhrmacher-Großvater, der über die zwei linken Hände seines Enkels verzweifelte, an die alte Mrs. Hale, die ihm einst das Rodeln beibrachte und ihm jetzt die Leviten liest. Das geht umso mehr zu Herzen, als Harding nicht nur mit Empathie, sondern voller Humor und Lakonie, mit Anflügen von Komik erzählt.
Bilder von surrealer Sprachkraft blitzen in den Tagträumen des Helden auf, die die Verlorene in ferne Zeiten versetzen: Unter die ersten Siedler in der Stadt, als Augenzeugin bei der letzten Hexenverbrennung, auf ein Schiff im Nebelmeer, in dem sie langsam entschwindet wie Eurydike ins Reich des Hades. Szenerien wie aus dem Mythos, der allein den Toten das ewige Leben schenkt.
Romane über Mütter und Töchter gibt es viele, auch solche, die um Schmerz, Verlust und Abschied kreisen. Dass wir jetzt auch einen über Väter haben, ist trotz des schmerzlichen Themas umso schöner.
Paul Harding: "Verlust"
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Luchterhand Literaturverlag, München 2015
272 Seiten, 19,99 Euro
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