Paul Beatty: "Der Verräter"

Ein Schwarzer will die Rassentrennung

Cover von Paul Beattys Roman "Der Verräter"; im Hintergrund ist das Foto einer Demo von Afroamerikanern zu sehen, die 1987 am Martin-Luther-King-Jr-Tag demonstrieren.
1987 demonstrieren Afroamerikaner für ihre Rechte. In Beattys Roman will der schwarze Protagonist die Rassentrennung wieder einführen. © Luchterhand / dpa picture-alliance
Von Sonja Hartl · 17.10.2018
Widersprüche sind weder Sünde noch Verbrechen, heißt es in Paul Beattys "Der Verräter". Dessen Protagonist agiert äußerst widersprüchlich, denn als Schwarzer will er wieder die Rassentrennung einführen. Der Roman ist eine mutige satirische Erzählung.
"Aus dem Mund eines Schwarzen klingt das sicher unglaublich, aber ich habe nie geklaut", bekennt der vornamenlose Erzähler zu Beginn von Paul Beattys rasend komischem Roman "Der Verräter". Dennoch steht er nun vor dem Obersten Gerichtshof der USA und wartet auf seine Verhandlung. Der Vorwurf: Er hat die beiden Zusatzartikel der Verfassung missachtet, mit denen Sklaverei und Rassentrennung abgeschafft wurden. Aber er ist überzeugt, dass er nicht schuldig ist. Vielmehr noch, er hat sich "aus dem Gefühl der Kollektivschuld ausgeklinkt, die das dritte Cello, die Verwaltungssekretärin, die Regalauffüllerin, die Sie-ist-nicht-wirklich-attraktiv-aber-schwarz-Siegerin des Schönheitswettbewerbs davon abhält, am Montagmorgen bei der Arbeit jeden weißen Motherfucker über den Haufen zu schießen". Außerdem kann er nicht für etwas schuldig sein, was ohnehin höchstens auf dem Papier abgeschafft wurde.

Polizisten erschießen den Vater

Mit einem funkelnden Auftaktmonolog fällt man in die verwegene, wahnsinnige Welt des Romans, in der Überzeugungen und Einsichten auf den Kopf gestellt, hinterfragt und gründlich durchgeschüttelt werden. Angefangen hat alles – wie sollte es anders sein – mit dem Vater des Ich-Erzählers, der seinen Sohn zu Hause unterrichtet und dabei allerhand soziologischen und psychologischen Experimenten unterzogen hat. Vor allem im Hinblick auf die schwarze Identität und Rassismus. Doch dann stirbt der Vater durch vier Kugeln, die ihm von Polizisten an einer Ampel in den Rücken geschossen werden. Und nun macht sich der Erzähler daran, die Bürgerrechte, auf die sein Vater so viel gegeben hat, systematisch rückgängig zu machen. Immer in dem aufrichtig-verwirrten Glauben, den Menschen zu helfen – und in der Hoffnung, seine Heimatstadt Dickens, die die Gentrifizierung von der Stadtkarte von Los Angeles gefegt hat, wieder auferstehen zu lassen.

Ein Schwarzer lässt sich freiwillig versklaven

Also nimmt er Hominy Jenkins bei sich auf, den letzten noch lebenden, einzigen afroamerikanischen Darsteller der "Kleinen Strolche", dessen zweitgrößter Wunsch es ist, als Sklave bei ihm zu leben, inklusive donnerstäglichen Auspeitschens. Und noch einen Wunsch erfüllt ihm der Erzähler: Er führt die alte Rassentrennung wieder ein. Zunächst nur in dem Bus, mit dem Hominy an seinem Geburtstag fährt. Weiße dürfen vorne sitzen, Schwarze müssen nach hinten – und als Krönung kommt eine weiße Frau, für die Hominy seinen Sitz räumen muss. Versehentlich bleiben die alten segregierenden Schilder hängen – und die Busfahrerin merkt, dass sich auf einmal alle Fahrgäste besser benehmen.

Brillante Ideen und bittere Wahrheiten

Die Versuche der Wiedereinführung von Sklaverei und Rassentrennung sind gewissermaßen die Rahmenhandlung dieses Romans, der vor Nebenschauplätzen, brillanten Ideen, entlarvenden Pointen und bitteren Wahrheiten über die Gesellschaft der USA strotzt. Beatty nutzt Referenzen auf philosophische und soziologische Erkenntnisse, auf (afro-)amerikanische Literatur und Filme sowie nahezu jedes Stereotyp, das es über Afroamerikaner gibt, um die Vielgestaltigkeit von Rassismus erkennen zu lassen. Seine Sprache steckt voller Rhythmus und rassistischer Worte, doch immer ist klar, wofür sie stehen und weshalb er sie verwendet.
Er schreibt über Polizeigewalt und Wassermelonen sowie über Identität und Liebe; er hinterfragt Zugehörigkeit und Gruppierungen, indem er erforscht, was passiert, wenn sich Menschen voneinander nicht aufgrund sozioökonomischer Unterschiede, sondern willkürlich gesetzter Regeln absondern. Dadurch macht er auf Widersprüche aufmerksam, doch sie sind es ja, die die Komplexität wichtiger Probleme ausmachen. "Widersprüche (sind) weder Sünde noch Verbrechen (...), sondern menschliche Schwächen wie der Glaube an die Willensfreiheit und Haarspliss."

Verstörend aufrichtig

"Der Verräter" ist ein verwegener, ein brillanter Roman, eine mutige satirische Erzählung von dem Zustand der USA und eine schonungslose Zusammenfassung des Diskurses über Rassismus in den USA – und je nach eigener Perspektive ist das furchtbar komisch oder schmerzhaft. Vor allem aber ist es verstörend aufrichtig.

Paul Beatty: Der Verräter
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Luchterhand, München 2018
352 Seiten, 20 Euro

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