Patriotismus

Wir sind wieder wer, aber wer nochmal?

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Deutschland ist beliebt in Europa (Bild: dpa / Uli Deck) © Uli Deck dpa/lsw
Von Christian Schüle · 19.11.2014
Laut einer jährlich durchgeführten Umfrage des englischen BBC World Service war 2013 Deutschland das beliebteste Land der Welt. Wie konnte das passieren? Der Schriftsteller Christian Schüle mit einem Erklärungsversuch.
Seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor einhundert Jahren befindet sich Deutschland im permanenten Kampf zwischen Normalität und Exklusivität. Es ist immer ein Land der Extreme und Exzesse gewesen; der Ausnahmezustand war Normalzustand. Als nationales Subjekt hatte die Republik, je älter sie wurde, eine umso gespaltenere Persönlichkeitsstruktur: Das Verhältnis der Deutschen zu sich und ihrem Land war und ist gestört, im mindesten problematisch.
Dann fiel die Mauer, und über die vergangenen 25 Jahre hinweg sind in den Böen der einschwebenden Globalisierung auch aus der abgewickelten DDR drei Ströme ins gesamtdeutsche Klima eingesickert: Pragmatismus, Protestantismus und eine geschäftsmäßige Form der Uneitelkeit. Sie alle haben das Land verändert und führen bis heute zu einer gewissen Normalität der Ernüchterung.
Schmaler Grat von Kraft zu Kraftmeierei
Über die vergangenen 25 Jahre hinweg ist vor allem den moralinsatten Linken der westdeutschen Bürgerlichkeit im behaglichen Juste-Milieu der Schuld-Zuweisungen die Deutungshoheit über das nationale Selbstverständnis verloren gegangen. Das wohlfeile Gut-und Böse-Schema geriet zunehmend mit der Wirklichkeit in Konflikt, und nun fürchten einige im Lande, dass sich die Gesamtdeutschen aus der stets so bequemen Mündel-Rolle herausheben und das bisher berechenbare Extrem der auferlegten Selbst-Verkleinerung ablegen könnten; dass sie, die Gesamtdeutschen also, als Erben nationalsozialistischer Massenmörder nicht nur Panzer und Waffen verkaufen und mit dem Tod Geschäfte machen, sondern Panzer und Waffen auch wieder selbst benutzen. Es ist ja, bekanntlich ein schmaler Grat von Kraft zu Kraftmeierei, vom Minderwertigkeitskomplex zum Überlegenheits-Rausch ...
Was ist von solcherlei Kassandra-Chören zu halten? Nicht viel, ehrlich gesagt. Deutschlands neue Rolle in der Welt besteht im maßvollen Mittelmaß zwischen Aufmucken und Abducken; sie besteht darin, eben gerade kein Sonderfall mehr zu sein, eben gerade keinen Sonderweg mehr zu gehen. Deutschland erhebt und erniedrigt, kurzum: exkludiert sich nicht mehr. Im Gegenteil: Es gemeindet sich ein - in eine Weltstaats-Gesellschaft, mit Rechten und Pflichten, Vertragstreue, Vermittlungs-Engagement und Vertrauenswürdigkeit.
Tragfähige Beispiele
In den letzten Jahren ist in der Bundesrepublik ein sanfter, vorsichtiger, fettfreier Patriotismus entstanden, den vor allem eines auszeichnet: die kollektive Verantwortung für seine eigene Domestizierung. Weder für säbelrasselnde Großmannssucht noch für obrigkeitsstaatlichen Chauvinismus, weder für herausgegrölte Vaterlandsliebe noch für neu erwachte Weltherrschaftsfantasien gibt es überzeugende, ernstzunehmende, tragfähige Beispiele.
Ja, wir sind wer. Nicht wieder wer, denn was wir jetzt sind, waren wir noch nie: eine Sympathie-, Wirtschafts- und Fußball-Großmacht, deren Güteklasse in der Freiheit begründet liegt, die Deutschland-Flagge zwar behutsam anzustecken - sie aber nicht zu schwenken. Wenn die gesamtdeutsche Bundesrepublik sich jetzt jenseits eines plumpen, mit Stereotypen und Geschichtsklitterungen operierenden rechts-links-Diskurses aufmacht, unter den Argusaugen der Weltöffentlichkeit mehr Verantwortung auf dem Globus zu übernehmen, (um an dieser Stelle den kontaminierten Begriff der Führung zu vermeiden) - dann ist womöglich genau das die Lehre aus der eigenen Geschichte: dass das Abschlachten von Menschen niemals zu dulden, dass der ewige Frieden keineswegs garantiert, dass die unbedingte Achtung von Menschenwürde und Menschenrechten mitnichten selbstverständlich ist.
Für die nahe Zukunft kann die Aufgabe einer künftigen Generation nur heißen: Nicht mehr ausschließlich selbstgerechte Vergangenheitsbewältigung in der Komfortzone, sondern Gegenwartsbewältigung in der rauen Wirklichkeit.
Angemessen selbstbewusst. Mit pragmatischem Augenmaß, mit Respekt und protestantischer Vernunft. Und mit erhobenem Haupt.
Christian Schüle, 44, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der "ZEIT" und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg.
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Christian Schüle© privat
Er hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt veröffentlichte er den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und den Essay "Wie wir sterben lernen" (Pattloch Verlag). Im März erscheint sein neues Buch "Was ist Gerechtigkeit heute?"
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