Patrice Poutrus: "Umkämpftes Asyl"

Der lange Schatten der Asyldebatte

08:25 Minuten
Das Cover des Buches "Umkämpftes Asyl" von Patrice Poutrus
Poutrus bemüht sich darum, die langen Linien der Debatte um das Asylrecht in Deutschland aufzuzeigen. © Ch. Links Verlag / Deutschlandradio
Von Dietmar Süß · 17.08.2019
Audio herunterladen
Die Debatten um das Asylrecht reißen nicht ab. Der Historiker Patrice Poutrus zeichnet die Geschichte dieses Grundrechts nach – und erklärt, warum der Ursprung des heutigen Konflikts viel weiter zurückliegt als das Jahr 2015.
"Der Komplex Flüchtlings- und Asylpolitik war von Beginn an mit fundamentalen Fragen nach den politisch-moralischen Grundlagen der deutschen Gesellschaft verbunden", schreibt Patrice Poutrus.
"Für die einen stellte eine offene Flüchtlings- und Asylpolitik die Garantie für eine grundsätzliche Abkehr von der rassistisch geprägten Vergangenheit und insbesondere vom Nationalsozialismus dar. Für die anderen war eine solche Position undenkbar, weil sie einen Bruch mit dem Paradigma des "Nichteinwanderungslandes" bedeutete und dieses als Aufgabe der historischen, kulturellen und ethnischen Identität der Deutschen verstanden wurde. Diese konfliktträchtige Konstellation existierte seit dem Beginn der politischen Debatte um das Asylrecht und um das Grundgesetz und prägt diese bis in die Gegenwart."

Doppelte Nachkriegsgeschichte

Poutrus verfolgt auf knappem Raum die großen Linien dieser Kontroversen: Die Auseinandersetzungen des Parlamentarischen Rates im Jahr 1948, die Diskussionen über die Aufnahme kommunistischer Flüchtlinge in den 1950er-Jahren, der Streit um den Umgang mit politisch Verfolgten aus Chile, die vor der Diktatur Pinochets geflohen waren, bis zur Aufnahme der vietnamesischen Boat-People und dem asylpolitischen Streit in der jungen Berliner Republik Anfang der 1990er-Jahre.
Damals, im Jahr 1993, hatten sich die Parteien nach heftigem Streit auf eine Einschränkung des Asylrechtes geeinigt – ein, wie das Poutrus nennt, "weiterer Gründungsakt" des wiedervereinigten Deutschlands, der getrieben war von hässlichen ausländerfeindlichen Kampagnen großer Zeitungen und mörderischen Pogromen gegen Migranten in Ost und West.
Poutrus erzählt seine Geschichte als doppelte Nachkriegsgeschichte. Er blickt also auch auf den Umgang der DDR mit Geflüchteten. Während seine Darstellung für die alte Bundesrepublik den bekannteren Linien folgt, argumentiert Poutrus aufgrund seiner großen Forschungserfahrung für Ostdeutschland auf viel breiterer Kenntnis.
Seine Bilanz: "Entscheidend für den Umgang mit Fremden im Staatssozialismus war die mit der Totalität des marxistisch-leninistischen Herrschaftsanspruch verbundene Homogenitätsvorstellung der kommunistischen Staatspartei. Nicht das Postulat des universalen Menschheitsfortschritts, sondern die dichotome Struktur des Klassenkampfes kann für den Umgang mit Fremden im "Arbeiter-und-Bauern-Staat" als grundlegend angesehen werden. Für DDR-deutsche Kommunisten wie auch für einfache DDR-Bürger war es unter Berufung auf den proletarischen "Internationalismus" durchaus möglich, im Alltag fremdenfeindliche Vorurteile beziehungsweise nationalistische Stereotype bedenkenlos zu benutzen, ohne dadurch in Konflikt mit der "sozialistischen Staatsgewalt" zu geraten."

Die "internationale Solidarität" hatte ihren Preis

Die DDR war weder der Genfer Konvention beigetreten, noch kannte die SED-Diktatur bei Asylverfahren ein individuelles Rechts- oder Klageverfahren. Und so ging es im Alltag um sehr unterschiedliche, vor allem um linke politische Flüchtlingsgruppen: griechische Kommunisten, die vor der Verfolgung in ihrem Land Hilfe beim sozialistischen "Bruder" suchten, geflohene spanische Bürgerkriegskämpfer, die Schutz vor den Repressionen des Franco-Regimes benötigten, und auch Flüchtlinge aus Algerien und Chile.
Aber "internationale Solidarität" hatte ihren Preis. Und so galt beispielsweise mancher der nordafrikanischen Politflüchtlinge, die für die algerische Unabhängigkeit gekämpft hatten, den örtlichen Behörden als Sicherheitsrisiko – das lag nicht an ihrer politischen Einstellung, sondern, wie es die "Abteilung Internationale Verbindung des ZK der SED" sorgenvoll protokollierte, an den sexuellen Kontakten algerischer Männer mit ostdeutschen Frauen. Soweit sollte die Völkerverständigung jedenfalls nicht gehen!

Streitfragen sind älter als 2015

Kein Wunder, warum die Frage der "Moral", der "Arbeitseinstellung" und auch der Bezahlung immer wieder für Konflikte sorgte. Von den Versprechungen jedenfalls, die mancher der Algerier bei der Ankunft erhalten hatte, war dann im Betriebsalltag nicht viel übrig.
Poutrus' Buch ist ein pointierter Versuch, die längeren Linien der derzeit so heftig geführten Debatten um das Für und Wider des Asylrechts aus deutsch-deutscher Perspektive historisch präziser zu erfassen. Deutlich wird vor allem, dass es im Streit um Zuwanderung, politisches Asyl, Grenzschutz und "Willkommenskultur" um zentrale Streitfragen der politischen Identität dieses Landes geht, die keineswegs im Jahr 2015 ihren Ursprung haben.

Deutschland ist kein Hotspot für Flüchtlinge

Der Begriff der "Flüchtlingskrise" ist dabei so falsch wie hässlich. Denn so sehr das mancher im Augenblick auch herbeischreit: Deutschland ist in der Flüchtlingsfrage – anders als es die abendländischen Untergangsszenarien beschwören – nicht der Nabel der Welt.
Die Mehrheit beispielsweise der afghanischen Flüchtlinge sucht Schutz in Pakistan oder dem Iran. Und der Großteil der syrischen Flüchtlinge lebt nicht etwa in Bayern, sondern in der Türkei, Jordanien oder dem Irak. Die Staaten des globalen Südens haben dabei die übergroße Mehrheit aller registrierten Flüchtlinge aufgenommen. Deutschland und die EU haben dazu in den vergangenen 20 Jahren vieles unternommen, damit Europa gerade nicht das Ziel aller globalen Migrationsbewegungen wird und dafür erhebliche Mittel und massiven Druck insbesondere auf die Länder Afrikas eingesetzt.
Nicht alle Passagen der Studie überzeugen gleichermaßen. Die Akteure der Asylpolitik, Parteien, Verbände, Nicht-Regierungsorganisationen: Sie erhalten bei Poutrus keine rechte Kontur. Das gilt für die konservativen Kritiker, aber mehr noch für diejenigen, die sich für Asylsuchende einsetzen: Rechtsanwälte, Sozialarbeiter, Politikerinnen und Politiker, Teile der christlichen Kirchen sowie Organisationen wie 'Pro Asyl', sie bleiben in seiner Darstellung etwas zu blass.

Scharfe Analyse mit klarer Haltung

Genauso wie die Asylsuchenden selbst. Die bunte Vielfalt zivilgesellschaftlichen Engagements, die ja selbst Teil der veränderten politischen Kultur der Bundesrepublik ist – sie hätte etwas mehr Farbe durchaus verdient. Es macht die Studie sympathisch, dass sie mit klarer innerer Haltung geschrieben ist und die Analyse darunter nicht leidet. Mit Blick auf die gegenwärtigen Kontroversen bilanziert der Erfurter Historiker deshalb unmissverständlich:
"Wer humanitäre Hilfeleistungen offen denunziert, die Menschenrechte suspendiert sehen will und somit die normativen Grundlagen der Demokratie angreift, der will einen vermeintlich völkisch-reinen Ursprungszustand nicht einfach nur wiederherstellen. […] Letztlich zielen ihre Forderungen auf einen Abbau des liberalen Rechtsstaates und auf das Ende der offenen Gesellschaft. Denn mehr noch als in den Flüchtlingen und Asylsuchenden selbst, sehen sie in der Pluralität eine Gefahr für ihr utopisches Gesellschaftsideal der reinen Abstammungsgemeinschaft, die sich 'Volk' nennt. Dabei ist es besonders problematisch für die Stabilität der Bundesrepublik, dass die Vertreter dieser nationalkonservativen beziehungsweise völkisch-reaktionären Politik zu großer Zahl in den staatlichen Institutionen sitzen, und dass sie umstandslos bereit sind, mit autoritären und diktatorischen Regimen in Europa und darüber hinaus zu kooperieren."
Recht hat er. Und wer diese Deutungsschlachten führen und besser verstehen will, der sollte dieses Buch lesen.

Patrice Poutrus: "Umkämpftes Asyl"
Ch. Links Verlag, Berlin 2019
248 Seiten, 12,99 Euro

Mehr zum Thema