Patienten ohne Krankenversicherung

"Die Menschen kämpfen ums Überleben"

Arzt Hanno Klemm von der Malteser Migranten Medizin behandelt einen Jungen aus Guinea Aequatorial in der Praxis des Malteser Hilfsdienst in Berlin.
Arzt Hanno Klemm von der Malteser Migranten Medizin behandelt einen Jungen aus Guinea Aequatorial in der Praxis des Malteser Hilfsdienst in Berlin. © imago/IPON
Von Manfred Götzke · 17.11.2017
Allein in Berlin leben mindestens 30.000 Menschen ohne Krankenversicherung. Viele Betroffene haben keinen Aufenthaltsstatus und gehen deshalb erst dann zum Arzt, wenn sie es ohne medizinische Versorgung nicht mehr aushalten. Deshalb möchte der Berliner Senat im kommenden Jahr den anonymen Krankenschein einführen.
"Irgendein Papier, Ausweispapier?"
Seit über einer Stunde hat Shelia vor der Aufnahme der Malteser Migrantenmedizin gewartet, jetzt kann sie ihre Mutter Eleanor endlich anmelden.
"Weil es geht ihr nicht gut und wir haben kein Geld dafür, deswegen sind wir hier."
"Mit welchen Beschwerden ist ihre Mutter hier?"
"Rückenschmerz, Unterleibsschmerz, der ganze Körper tut ihr weh."
Eingesunken sitzt die dunkelhäutige Frau Mitte 60 auf dem zerkratzen Holzstuhl vor der Anmeldetheke. Wochenlang quälte sie sich, wusste nicht, wohin mit ihren Beschwerden. Bis ihre Tochter von einer Bekannten von dieser besonderen Arztpraxis in Berlin Wilmersdorf erfuhr. Sie behandelt Menschen ohne Krankenversicherung.
Shelia und Eleanor heißen eigentlich anders. Sie stammen aus Angola in Westafrika, seit mehreren Jahren leben sie schon in Berlin. Ohne legalen Aufenthaltsstatus, ohne Krankenversicherung. Ihr Asylantrag wurde schon vor Jahren abgelehnt. Wo sie lebt und wovon, will mir Sheila nicht erzählen.
"Jut, sie müssten noch einen Moment im Wartezimmer Platz nehmen."

"Eine unlösbare Aufgabe"

Eleanor wird von den Krankenschwestern ins Wartezimmer geschickt. Das ist voll, wie fast jeden Dienstag und Freitag, wenn hier Sprechstunde ist. Schließlich ist die Arztpraxis eine von nur zwei Einrichtungen in Berlin, die sich um Menschen ohne Krankenversicherung kümmern, erzählt Hanno Klemm. Er arbeitet hauptamtlich als Arzt bei der Migrantenmedizin.
"Das Besonders an der Praxis ist, dass wir eine unlösbare Aufgabe vor uns haben, weil die gesundheitlichen Probleme untrennbar mit den sozialen Problemen verbunden sind, die wiederum ebenfalls kaum zu lösen sind."
Im Flur vor seinem Sprechzimmer ist ein babylonisches Sprachgewirr zu hören. Viel Englisch, Vietnamesisch, aber auch: Polnisch, Bulgarisch und Rumänisch. Die meisten der Patienten haben keinen legalen Aufenthaltsstatus, es sind aber auch EU-Bürger dabei. Auf den Stühlen vor dem Warteraum sitzen drei junge Polen, in verschlissenen Parkas.

"Die Menschen kommen mit schweren medizinischen Problemen, die Erkrankungen sind deutlich weiter fortgeschritten, sind deutlich akuter, als in der normalen Sprechstunde, und es kommen viel mehr Notfälle in die Sprechstunde. Und das führt dazu, dass die Menschen sich mit viel mehr Intensität her bewegen. Jemand, der stärkste Zahnschmerzen hat, wird eher auf die Dringlichkeit seiner Behandlung pochen, als jemand der nur leichte Zahnschmerzen hat."
Der 40-jährige Allgemeinmediziner hat eigentlich keine Zeit für ein Gespräch, draußen warten knapp 30 kranke Menschen, die Sprechstunde ist in zwei Stunden vorbei. Klemm und seine Mitarbeiter bügeln hier das aus, was der Staat nicht leistet, oder besser nicht leisten will, sagt er. Sie finanzieren sich aus Spenden und Zuwendungen vom Berliner Senat.
"In jedem Fall gucken wir uns jeden Patienten an, und versuchen dann mit den Mitteln, die wir hier haben – und die sind sehr limitiert – zu einer Diagnosestellung zu kommen. Es ist eigentlich eine Arbeit, die – wie wir sie leisten – in einem Entwicklungsland oder Dritte-Welt-Land so geleistet werden würde."
Ein Schild weist auf die Arztpraxis der Malteser Migranten Medizin in Berlin hin.
Ein Schild weist auf die Arztpraxis der Malteser Migranten Medizin in Berlin hin.© picture alliance / dpa / Stephanie Pilick

Berlin führt den anonymen Krankenschein ein

Doch das soll sich jetzt ändern. Der Berliner Senat will im kommenden Jahr den anonymen Krankenschein einführen. Er soll Patienten wie denen von Hanno Klemm Zugang zum regulären Gesundheitssystem ermöglichen, sagt Dilek Kolat, die Berliner Gesundheitssenatorin:
"Bei Menschen, die hier leben und keinen Aufenthaltstitel haben, dort wollen wir durch die Ausstellung eines anonymen Krankenscheins den Zugang zur gesundheitlichen Versorgung sicherstellen. Wir können nicht die Augen vor ihnen verschließen, auch wenn sie in der Anonymität leben – sind sie da."
Zwar können Menschen ohne Krankenversicherung auch heute schon beim Sozialamt einen Krankenschein beantragen – doch die Ämter sind dann verpflichtet, deren Daten an die Ausländerbehörden weiter zu geben. Menschen ohne Aufenthaltstitel könnten dann abgeschoben werden. Weshalb viele Betroffene derzeit eben nicht zum Arzt gehen.
"Es geht deshalb auch um den Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Gerade bei Aids haben wir ein großes Interesse, an die Menschen ranzukommen, dass wir herausfinden, ob sie HIV-positiv sind oder nicht, um dann in eine Behandlung zu gehen. Das ist auch im Sinne der gesamten Bevölkerung, Ansteckungen, Verbreitungen von Infektionen zu verhindern, dass diese Menschen einen Zugang haben zum Gesundheitssystem."
700.000 Euro will Kolat dafür in die Hand nehmen. Ein Drittel dieser Summe wird allerdings in eine sogenannte Clearingstelle fließen. Denn viele Patienten, die aus EU-Ländern kommen, haben ein Anrecht auf eine Krankenversicherung in Deutschland, wissen dies aber nicht.
"Hier wollen wir den Menschen helfen, ihren Versicherungsstatus zu klären. Wir haben Erfahrungen aus anderen Bereichen, wie etwa HIV-Behandlung, dass wenn man in Kontakt tritt mit den Herkunftsländern, man durchaus erreichen kann, dass die Menschen Zugang zu einer Krankenversicherung bekommen."

"Das ist ein gesellschaftlicher Skandal"

Hanno Klemm hält den Plan der Senatorin grundsätzlich für richtig, doch die Summe werde wohl kaum ausreichen, sagt er.
"Das ist ein Versuch, auf kommunaler Ebene, Abhilfe zu schaffen, aber es kommen ja auch Menschen aus dem Umland hierher, und viele kommen eben auch nicht, weil sie eben gar nicht wissen, dass wir existieren. Wir gehen davon aus, dass hier 30.000 bis 40.000, vielleicht sogar 100.000 Menschen keine Krankenversicherung haben – in Berlin. Das sind so viele Menschen, die dringlich versorgt werden müssen. Da werden die 700.000 Euro in einem Monat aufgebraucht sein, spätestens."
Klemm beugt sich vor, klopft mit der Handkante zwischen den Sätzen auf den Holzschreibtisch. Er redet sich mehr und mehr in Rage.
"Das ist eine absolute Kosmetik an einem Problem, das nicht medizinisch ist, sondern das ist ein gesellschaftlicher Skandal. Die Menschen kämpfen ums Überleben und das haben sie möglicherweise ihr ganzes Leben schon gemacht. Und sie kämpfen hier weiter. Weil sie hier zwar in einem mitteleuropäischem Land mit unfassbarem Reichtum gelandet sind, sie allerdings niemals teilnehmen können da dran."

Sie erreichen die "Migrantenmedizin" in Berlin unter der Telefonnummer 030 8272 2102 und in Frankfurt am Main unter der 069 9533 4547.

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