Pastor Carouge und der Koran

André Carouge im Gespräch mit Kirsten Westhuis · 16.06.2012
Nicht sehen, nicht hören, nicht sprechen - das sind Gründe, warum Angst oder Vorurteile zwischen Christen und Muslimen entstehen können. In Kamp-Lintfort arbeiten muslimische und christliche Bergmänner seit Jahrzehnten unter Tage zusammen. Im ZDF-Fernsehgottesdienst werden sie das jetzt auch über Tage, und das sorgt für Aufregung.
Von einem guten Miteinander der Bergleute will der Gottesdienst in der baptistischen Friedenskirche in Kamp-Lintfort erzählen, dabei soll auch aus dem Koran zitiert werden. Und schon schlagen die Wellen der Empörung hoch – Religionsvermischung sei das. Pastor André Carouge versteht diesen Aufruhr nicht:

André Carouge: Ach, ich denke, in Kamp-Lintfort ist alles gut. Es ist eine Pressemeldung rausgegeben worden, wo das Wort "Muslime" und "Gottesdienst" und "Koran" drin stand, und ich glaube, dass allein diese Worte ausgereicht haben, um eine, ja, Welle loszutreten und sich schon mal über das zu beschweren, was man noch gar nicht kennt.

Kirsten Westhuis: Ja, viel Information steckt da ja nicht drin in diesen wenigen Worten. Erklären Sie uns doch mal, was haben Sie da vor am Sonntag?

Carouge: Wir leben in einer Stadt, die genau auf dieses Wochenende hundert Jahre Kohle fördert, und wir haben mit dem ZDF zusammen überlegt, was könnte ein Thema sein für unseren Fernsehgottesdienst, der über unsere Stadt hinaus ein wichtiges Thema setzen könnte, und sind dabei auf das Miteinander von Christen und Muslimen in unserer Stadt gekommen. Auch unter dem Gesichtspunkt, was können eigentlich Christen lernen aus diesem Dialog, und wie hat uns das als Christen verändert.

Westhuis: Und da haben Sie dann auch im Koran, in den Texten der Muslime, was gefunden?

Carouge: Also wir haben zunächst einmal überlegt, welches Thema denn ein verbindendes Thema zwischen Christen und Muslimen ist. Das war das Thema "Barmherzigkeit". Und danach haben wir dann natürlich das Neue Testament, die Bibel befragt, als auch den Koran, und haben eine Stelle gefunden, die, eigentlich könnte man sagen, fast eine Parallelstelle zum Predigttext aus dem Neuen Testament ist. Eine Stelle aus der zweiten Sure des Korans.

Westhuis: Eine Koransure gehört einfach nicht in einen christlichen Gottesdienst, sagen Ihre Kritiker. Wie sehen Sie das? Passt das zusammen?

Carouge: Im Gottesdienst werden bei uns ja nicht nur Texte aus dem Alten und dem Neuen Testament gelesen. Es gibt auch ganz andere Texte aus der Lyrik, die beispielsweise gelesen werden. Das ist das eine. Und das andere ist, ich denke, man muss sich auch klar machen, dass die Texte auch gerade im Alten Testament auch sehr stark beeinflusst sind vom religiösen Umfeld der damaligen Zeit.

Westhuis: Viel Gegenwind, hauptsächlich eben auch aus evangelisch-freikirchlichen Kreisen. Halten Sie denn trotzdem an Ihren Plänen fest und ziehen das durch?

Carouge: Also, ich kann es nicht beurteilen, aus welchen Kreisen der Gegenwind kommt. Ich denke, weniger aus evangelisch-freikirchlichen Kreisen, mehr aus frommen Kreisen, auch aus Kirchenkreisen. Unser Bund hat uns den Rücken gestärkt in dem, was wir vorhaben. Wir haben, nachdem die Proteste kamen, noch mal sämtliche Texte gelesen, bedacht, und sind dann aber bei den ursprünglichen Plänen geblieben und haben nichts am gottesdienstlichen Text verändert.

Westhuis: Gerade in dem Bericht über das interreligiöse Theaterstück der Jugendlichen haben wir gehört, wie stark Vorurteile und Klischees im Alltag immer noch präsent sind. Und der Fernsehgottesdienst wird ja erst am Sonntag übertragen. Und erst dann werden die Zuschauer auch ganz genau erfahren, was Sie sagen wollen. Warum gab es diese große Welle vorher? Sind da auch Vorurteile am Werk?

Carouge: Ich könnte es mir vorstellen. Ich denke aber, dass in vielen Köpfen eher so ein Bild da ist, das man vielleicht Feindbild nennen kann. Der Islam als große Religion, als Gegenüber zum Christentum. Angst zu haben, hier etwas aufzugeben im christlichen Abendland und islamisiert zu werden. Also ich glaube, da gibt es eine Menge Befürchtungen und Bilder, die durch die Köpfe schwirren und die sicherlich dazu maßgeblich auch beigetragen haben.

Westhuis: Und Sie selber sind ja auch Gemeindepastor, Pastor in der Friedenskirche in Kamp-Lintfort. Wie sehen Sie denn das im Alltag? Gibt es solche Ängste oder Befürchtungen auch bei Ihren Gemeindemitgliedern, und, ja, wie gehen Sie damit um?

Carouge: Befürchtungen gibt es auch bei Gemeindemitgliedern, aber weniger, weil sie ja auch den Dialog über die letzten Jahre miterlebt haben. Und das hat wirklich sicherlich auch unsere Stadt ausgezeichnet und das Miteinander, was im Bergbau hier gelebt wird. Dass, ja, dass man sich kennt, das man sich wertschätzt, dass man einander nicht aus dem Weg geht, sondern sehr bewusst auch begegnet. Von daher gibt es natürlich auch einzelne Stimmen, die kritisch rückfragen, aber die Gemeinde trägt das sehr positiv mit.

Westhuis: Bergbaujubiläum feiern Sie. Seit mehreren Jahrzehnten arbeiten die Arbeiter unter Tage zusammen. Muslime, Christen, das spielt dabei keine Rolle, aber wie ist es denn über Tage? Wurde da damals schon ein, ja, ein Miteinander gepflegt? Hat man über das Arbeiten hinaus auch Religion gegenseitig kennengelernt oder wie ist dieses gewachsen in Kamp-Lintfort?

Carouge: Auf der einen Seite ist es natürlich so, dass unter Tage seit Generationen jetzt zusammengearbeitet wird. Man kennt sich, man ist Kumpel, man arbeitet zusammen, man hält zusammen. Ich hab sehr bewegende Momente erlebt. Ich bin hier in der Stadt auch Feuerwehrseelsorger, war öfters auch bei Unfällen auf dem Bergwerk, wo türkische und bosnische Bergleute versucht haben, das Leben ihrer deutschen Kumpels zu retten, die viel Zeit investiert haben, also Stunden investiert haben, bis der Notarzt anfahren konnte. Dann mit Tränen ausgefahren sind, und mit denen wir lange gesprochen haben. Das sie es nicht geschafft haben und dass ihr Kumpel doch verstorben ist an den schweren Verletzungen, das prägt schon sehr das Miteinander unter Tage. Nur, man muss natürlich auch sehen, dass vieles, was unter Tage gewachsen ist und gelebt wird, nicht automatisch an die Oberfläche nach über Tage befördert wurde, sondern dass wir da tatsächlich einen Weg zu gehen hatten, der maßgeblich seit dem 11. September dann geschehen ist, was unsere Gemeinde betrifft. Und der uns in ein ganz neues Miteinander gebracht hat.

Westhuis: Sie nennen den 11. September 2001 als markantes Datum. Was ist seitdem geschehen in Ihrer Gemeinde auch?

Carouge: Wir haben uns als Gemeinde bewusst auf den Weg gemacht, um unsere muslimischen Nachbarn zu besuchen, vor Ort, in ihrer Moschee. Und sind da sehr, sehr herzlich empfangen worden, haben zunächst einmal all unsere Fragen loswerden können. Wir haben uns mit einer Gruppe den Gebetsraum der Moschee angesehen und haben dann eine Gegeneinladung ausgesprochen, die auch angenommen wurde, und die Muslime sind tatsächlich gekommen, und sie sind direkt an einem Sonntag in einen Gottesdienst gekommen, um einfach zu sehen, wie wir auch unseren Glauben leben und feiern.

Westhuis: Und gibt es da spezielle Aktionen in Ihrer Gemeinde, dass so etwas regelmäßig passiert zum Beispiel?

Carouge: Jetzt haben wir einen christlich-muslimischen Theologenkreis, das heißt, die Theologen treffen sich regelmäßig. Evangelisch, katholisch, freikirchlich, muslimisch. Aus den verschiedenen Moscheevereinen dieser Stadt auch. Wir sprechen über die Dinge des Miteinanders über Tage in unserer Stadt, wo wir Akzente setzen wollen, wo wir Themen sehen. Wir waren erst vor wenigen Tagen miteinander, das heißt, die Theologen, in Bosnien und haben dort, in Sarajewo, Muslime, Christen und Juden besucht. Und mit ihnen Gespräche geführt.

Westhuis: Ist es denn, das Miteinander der Gemeindeglieder und der Gemeindemitglieder der Moscheegemeinden, der ganz normalen Menschen, ist das denn immer noch ein Kennenlernen, ein Wissensammeln über den anderen, oder geht es auch darüber hinaus, kann man auch miteinander beten, feiern oder spirituell sein?

Carouge: Ich glaube, dass unterschiedliche Menschen unserer Gemeinden da einen unterschiedlichen Grad miteinander erreicht haben. Das bewegt sich zwischen Erstkontakt und immer noch Kennenlernen bis hin zu tatsächlichen tiefen Freundschaften, die gewachsen sind und die stabil sind und die auch einladend sind, andere damit hineinzunehmen. Uns ist wichtig, einander wahrzunehmen, den anderen wahrzunehmen in ihrer Spiritualität. Gemeinsames Gebet ist nicht möglich, aber wir respektieren einander, haben Achtung vor dem anderen und vor dem Ausdruck seinen Glaubens, ihres Glaubens.

Westhuis: Miteinander Beten ist nicht möglich, sagen Sie ganz deutlich. Aber miteinander Texte lesen oder auch im Gottesdienst den Koran zitieren, das passt?

Carouge: Auf der anderen Seite ist es auch so, wenn ich zum Iftar [dem Fest des Fastenbrechens] eingeladen werde, werde ich auch gebeten, ein Tischgebet in der Moschee zu sprechen, was ich dann auch tue, so wie ich es aber auch nur sprechen kann. Von daher sehe ich da für mich keinen Widerspruch oder nichts drin, wo ich Reibung sehen würde für mich.

Westhuis: Am Sonntag ist der Fernsehgottesdienst, über den jetzt im Vorfeld schon so viel gesagt wurde. Verstehen die Gemeindemitglieder und auch die Muslime in Kamp-Lintfort überhaupt die Aufregung?

Carouge: Die Aufregung geht ja tatsächlich nicht von unserer Stadt aus. In unserer Stadt kann man die Aufregung nicht verstehen. Weil tatsächlich schon eine Menge gewachsen ist. Aber wir haben sie kommuniziert. Sie ist angekommen bei allen Beteiligten, auch bei den Gottesdienstbeteiligten, und sie wissen darum, was in der Republik so diskutiert wird und diskutiert wurde.

Westhuis: Können Sie sich als Pastor denn überhaupt noch freuen auf einen schönen Fernsehgottesdienst?

Carouge: Ich glaube, dass man sich im Klaren sein muss, welche Botschaft man hat, was man vermitteln will. Es wird sicherlich ein besonderer Gottesdienst sein, weil aufgrund der ganzen Vorgeschichte natürlich auch eine Anspannung da sein wird. Aber ich bin mir eigentlich im Klaren, dass das, was wir sagen wollen, richtig und gut ist, und von daher freue ich mich auch auf Sonntag.

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