Parlament

Das Phantom vom Bundestag

Von Stefan Maas · 09.12.2014
Seit 35 Jahren gehört Jakob Maria Mierscheid dem Bundestag an. Auftritt in einer Talkshow – undenkbar. Interview für das Radio – Absage sicher. Und dennoch: Mierscheid ist ein Hinterbänkler in der vordersten Reihe.
"So, guck mal, nehmt euch doch mal eine Schere. Hiermit erklären wir den Jakob Maria Mierscheid-Weg für eröffnet." (Applaus)
Es ist ein kühler Oktobersonntag im Hunsrück. Der Wind pfeift scharf über den Höhenweg. Der Himmel ist verhangen, der Blick schweift über Täler, Wiesen und Wälder. Nur Mierscheid fehlt – wie immer. Die Hände tief in den Taschen vergraben, die Schultern hochgezogen, haben die Wanderer gewartet, dass Andreas Hackethal, der Bürgermeister der Gemeinde Morbach endlich die erlösenden Worte spricht, die Schere das rote Band zerschneidet, und sie aufbrechen können. Abwärts zunächst, auf der Suche nach dem nächsten Hinweisschild. Dem gezeichneten Gesicht eines schnauzbärtigen Mannes.
Sie sind die ersten Wanderer auf dem Weg, den die Gemeinde Morbach in Rheinland-Pfalz dem einen ihrer beiden bekanntesten Söhne zum achtzigsten Geburtstag gewidmet hat. Jakob Maria Mierscheid. Geboren 1933. Gelernter Schneidermeister. Verwitwet, Vater von vier Kindern. Nach 35 Jahren in der Politik längst eine Bundestagslegende.
"Herr Mierscheid ist sehr wichtig, weil er natürlich eine gewaltige Erfahrung mitbringt."
Katharina Barley, Sozialdemokratin wie Mierscheid. Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Trier. Auch sie hat es sich nicht nehmen lassen, dabei zu sein an diesem Ehrentag für ihren Fraktionskollegen.
"Er ist ja keiner, der sich sehr in den Vordergrund drängt. Insofern verkörpert er so ein bisschen den Idealtypus des bescheidenen, kontinuierlich arbeitenden Abgeordneten."
So bescheiden ist Mierscheid, dass er selbst nicht unter den Wanderern ist. Er freue sich sehr über die Ehrung, lässt er ausrichten, zu viel Rummel um die eigene Person aber ist ihm zu wider. Deshalb sei er schon einmal vorausgewandert, mit zwei alten Freunden:
"Edmund F. Draeger aus dem Auswärtigen Amt und Nagelmann vom Bundesverfassungsgericht. Die beide allerdings schon über hundert Jahre alt sind. Und ein bisschen gebrechlich. Deshalb sind die vorgelaufen."
Olympische Spiele in Morbach
Auch Friedhelm Wollner gehört zu Mierscheids alten Freunden. Fast vom ersten Tag im Bundestags an hat er sich mit um das Wohlergehen und die Korrespondenz des Rheinland-Pfälzers gekümmert. Auch ihm bleibt an diesem Tag nur, dem Ehrengast hinterherzulaufen. Nichts Ungewöhnliches, sagt CDU-Bürgermeister Andreas Hackethal. Mierscheid sei den anderen oft einen Schritt voraus. Auch bei seinem Engagement für seine Heimatregion:
"Er ist unbedingt Botschafter. Und er versteht Botschaft auch insoweit, dass er nicht nur nach außen darstellt, sondern, dass er ganz gezielt die Welt auch in die Region bringen will. Und so kommen dann Ansätze und Projekte, die er versucht hatte, umzusetzen, wie etwa, die Olympischen Spiele nach Morbach zu bringen. Wir sind knapp gescheitert, aber ein Projekt, was sicher ein Großes gewesen wäre. Und wo wir alle von profitiert hätten."
Dass bei so viel Engagement irgendetwas dann doch auf der Strecke bleiben muss – ist verständlich.
"Der Jakob ist seit seinem 20. Lebensjahr Mitglied bei uns im Gesangverein. Und hat vor seiner politischen Karriere regelmäßig an den Chorproben teilgenommen. In seiner Bonner Zeit leider nur noch sporadisch. Und aus Berlin leider so gut wie gar nicht mehr."
Es geht eben nichts über die Politik. Sogar an seinem Ehrentag. Mierscheid ist schon wieder auf dem Weg nach Berlin. Sogar seine Gäste bekommen den Geehrten an diesem Oktober-Sonntag nicht zu Gesicht – wieder einmal.
(Gesang): Heimat, oh Heimat, schöne, liebe Heimat ...
Mierscheid macht sich rar, wenn es darum geht, sich feiern zu lassen. Auch in Berlin. Denn der Wanderweg im Hunsrück ist nicht der erste Weg, der nach dem Morbacher benannt worden ist. Wenngleich auch der längere. Der Jakob Jakob-Maria Mierscheid-Steg im Regierungsviertel in Berlin - und mit ihm die Spree - ist in wenigen Schritten überquert. Auch hier blieb der Sozialdemokrat der Einweihung fern. Immerhin, diese Ehrung hat er angenommen. Das war nicht immer der Fall. Sogar als es um ein Bundestagsgebäude ging, das seinen Namen tragen sollte, wie er erklärte. Eine seltene Ehre zu Lebzeiten. Dennoch: Mierscheid ist konservativ. Bevorzugt die klassische Bonner Architektur. Das sagte er auch, vielmehr er schrieb es, denn das ist seine bevorzugte Form der Kommunikation:
"Berlin, 23.1.2002
Das Jakob Kaiser Haus wird offiziell seiner Bestimmung übergeben [...] Man lernt neue Begriffe: Edle Materialien heißt: Kalter roher Beton an Wänden und in Zimmern. Großzügige Raumfluchten heißt: Riesige Hallen, in denen man auf dem Weg in winzige Büros auf nicht kommende Aufzüge wartet. [...] Ich lüfte kein Geheimnis, wenn ich mitteile, dass ich es abgelehnt habe, dass dieses Haus Jakob Mierscheid Haus genannt wird. Man ist aber beim Jakob geblieben und auf Kaiser ausgewichen, das macht mehr her, es aber nicht besser. Der wahre Jakob ist dieses Haus nicht."
Auch deshalb ist Mierscheid viel unterwegs. Verpasst darum die ein oder andere Bundestagssitzung. Wie im vergangenen Jahr. Da wurde der Sozialdemokrat 80.
"Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen."
Es gibt eine Tradition im Bundestag...
"Ich eröffne unsere Sitzung und gratuliere zu Beginn..."
Auch am 1. März 2013 ist alles wie immer. Fast...
"Es gibt heute noch ein anderes bedeutendes Jubiläum. Jakob Mierscheid wird 80 Jahre alt, dem ich ebenfalls im Namen des ganzen Hauses gratulieren möchte."
Das Protokoll der 226. Sitzung der 17. Legislaturperiode verzeichnet an dieser Stelle: Heiterkeit!
"Dieser geschätzte, gelegentlich verzweifelt gesuchte Kollege hat schon im Jahre 1979 in der Nachfolge von Carlo Schmid seine denkwürdige Tätigkeit im Deutschen Bundestag aufgenommen. Er hat sich für die heutige Sitzung aus zwingenden Gründen entschuldigen müssen."
Das kommt häufiger vor. Trotzdem, sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert damals:
"Ich hoffe sehr, dass uns der Kollege Mierscheid auch in der nächsten Legislaturperiode erhalten bleibt. (Gelächter) Die naheliegende Aufgabe die konstituierende Sitzung als Alterspräsident zu eröffnen würde allerdings voraussetzen, dass er persönlich anwesend ist."
Ist der Sozialdemokrat im entscheidenden Moment natürlich nicht. Und so kommt dann doch noch Heinz Riesenhuber von der CDU zum Zug. Nicht so dramatisch. Es wurde ja später eh eine Große Koalition. Doch auch seit Beginn der aktuellen, der 18. Legislaturperiode, macht Mierscheid sich weiter rar.
Politik hält ihn jung
Auch im Internet gibt es nur zwei Fotos des Politikers. Das ältere, ein verwittertes Schwarzweißbild, zeigt Mierscheid in mittlerem Alter. Mit Brille, nach oben gezwirbeltem Schnauzbart und hohem, steifen Hemdkragen. Das zweite, das ihn im Jahr 2014 zeigen soll, lässt erkennen, dass die Politik den gelernten Schneidermeister erstaunlich jung gehalten hat. Seine 80er-Jahre Brille, die haarwasser-schwere Frisur und sein Krawattengeschmack allerdings verraten das wahre Alter des mittlerweile 81-Jährigen.
Falls es denn authentisch ist. Denn Mierscheid ist – das wissen alle in Berlin – kamerascheu.
"Es ist uns nicht gelungen, beispielsweise ein Portraitbild von Herrn Mierscheid zu schießen."
Sagt Sören Roos, der Leiter der Abteilung Information und Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages. Immerhin ist der Bundestagverwaltung ein anderer Coup gelungen:
Seit vergangenem Jahr erklärt Mierscheid im Deutschen Dom in Berlin den Besuchern der Bundestags-Ausstellung "Wege - Irrwege - Umwege" in mehreren Filmen den Alltag eines Abgeordneten.
"Mein Name ist Jakob Maria Mierscheid, ich bin seit vielen Jahren Bundestagsabgeordneter."
Ein freundlicher älterer Herr im Anzug. Zu sehen von der Seite. Zu sehen von hinten, eilend in der Menge. Nie von vorn. Dennoch sei Mierscheid die Idealbesetzung, sagt Roos:
"Wir hatten uns natürlich überlegt, wie wir die Bürger, die Besucher im Deutschen Dom an den Abgeordnetenalltag, ein zentrales Thema heranführen können. Einen Max Mustermann zu installieren, erschien uns zu abstrakt und zu abgehoben. Und nach kurzer Zeit fiel uns ein, dass es ja schon einen tatsächlichen Abgeordneten Mierscheid gibt. Und da wir uns alle sehr schnell und gut an Herrn Mierscheid erinnern konnten, war die Entscheidung aus Sicht der Verwaltung schnell gefallen."
Das Bundestagspräsidium zu überzeugen, dauerte dann doch länger. Dabei gab es unübersehbare Vorteile, sich für den Morbacher zu entscheiden. Besonders wichtig: Mierscheid ist phänomenal skandalfrei. Und:
(Roos) "Herr Mierscheid ist ein über alle Fraktionen hinweg anerkannter, vielleicht sogar beliebter Politiker."
Und das seit 35 Jahren, wenn man seinen Weggefährten glauben darf:
"Im Dezember 79 kam er dazu. Und man kannte ihn dann sehr schnell."
Erinnert sich Franz Müntefering. Der spätere SPD-Fraktions- und Parteichef war schon einige Jahre Abgeordneter in Bonn, als Mierscheid die Fraktion verstärkte:
"Naja, es war klar, da ist ein neuer Kollege. Man hatte ihn noch nicht gesehen. Und dann wurde zunächst gesagt, das ist wahrscheinlich ein Phantom. Aber dann hat man nach wenigen Tagen gemerkt, das ist ein Phänomen, dieser Mann. Da rankte sich immer mehr um ihn. Das wurde immer greifbarer. Bald sprachen alle darüber. Und redeten mit ihm und über ihn. Das war ein sehr erfolgreicher Einstand. Das gelingt wenigen."
Ganz zufällig kam dieser Erfolg nicht:
"In der Anfangszeit von Mierscheid hat er sich ganz anders bekannt gemacht. Oder wurde ganz anders bekannt gemacht."
Mierscheid ist eben eine Marke. Und die braucht gutes Marketing, sagt Friedhelm Wollner im Rückblick:
"Die beste Methode, das zu gewährleisten, war damals im Bundestag, ihn ausrufen zu lassen. Die Hausrufanlage im Bundestag hat ständig getönt und geklingelt. Weil immer Leute gesucht wurden. Heute macht das keiner mehr. Die wird kaum noch benutzt, weil ja jeder ein Handy hat. Oder über SMS erreichbar sind. Aber damals waren Abgeordnete und andere nur erreichbar über die Hausrufanlage. Also wurde Jakob Mierscheid öfter ausgerufen. Und damit gab es einen Erinnerungseffekt. Da gibt es einen, der heißt Mierscheid. Wer ist das denn?"
Schnell machte sich der Parlamentsneuling aber auch durch seine inhaltliche Arbeit einen Namen:
"Ich war damals tätig im Bereich Raumordnung, Bauwesen, Städtebau. Und es war schon auffallend, dass er sich da sehr schnell engagierte. Er hat ein Finanzierungsmodell damals vorgestellt mit einer 150-prozentigen Förderung durch öffentliche Mittel. Er hat sich auch bereit erklärt, für sich selbst und seine Familie, er hatte ja vier Kinder, seine Frau war damals schon verstorben, also er hat sich bereit erklärt, dieses Modell an sich selbst ausprobieren zu lassen. 150 Prozent Fremdfinanzierung durch öffentliche Hände. Dazu ist es dann leider nicht gekommen, aber das war der Arbeitsbereich in dem ich auch war, und da hatte man dann schnell mit ihm zu tun."
Die geringelte Haubentaube
Mierscheid weitet sein Betätigungsfeld schnell aus: Allgemeine Sozialfragen, Probleme der Berufsausbildung, die Aufzucht und Pflege der geringelten Haubentaube in Mitteleuropa und anderswo. Sowie die Untersuchung des Nord-Süd-Gefälles in der Bundesrepublik:
"Sein Vorschlag auch, dass alle Reden der Abgeordneten zu Protokoll gegeben werden sollten außer der Endpassage, die immer beginnt: Ich komme zum Schluss und fasse zusammen. Das war ja ein hoher Entbürokratisierungsvorschlag und auch ein Vorschlag, der dazu geführt hätte, dass das Parlament ein mehr zuspitzendes Parlament geworden wäre. Eigentlich war das ein alternativloser Vorschlag, aber er ist leider nicht erhört worden."
Besondere Berühmtheit erlangt Mierscheid 1983. In einem Artikel in der SPD-Parteizeitung „Vorwärts" formuliert er eine neue Gesetzmäßigkeit zur Wahlprognostik.
"Das legendäre Mierscheid-Gesetz. Die Feststellung des Zusammenhanges zwischen SPD-Bundestagswahlergebnis und deutscher Rohstahlproduktion in den alten Bundesländern. Dieses Gesetz funktioniert seit Anfang der 60er-Jahre. Immer mit ein, zwei Punkten Abweichung."
So verharrte etwa während Helmut Kohls Kanzlerschaft die Rohstahlproduktion auf niedrigem Niveau. Die Wahlergebnisse der SPD waren entsprechend mau. Erst 1998 stieg sie wieder an. Auf annähernd 38,45 Tonnen. Gerhard Schröder wurde Kanzler, das Wahlergebnis der Sozialdemokraten lag bei 40,9 Prozent. 2002 betrug die Rohstahlproduktion 38,6 Millionen Tonnen, die SPD fuhr bei der Bundestagswahl 38,5 Prozent ein.
Das Gesetz gilt – zumindest in der Tendenz – auch wenn das nicht immer schön ist für die Sozialdemokraten, sagt Franz Müntefering, der ehemalige SPD-Vorsitzende:
"Es ist dann mit dem Stahl bergab gegangen. Und meine Partei hat, glaube ich, auch noch nie versucht, wissenschaftlich zu überlegen, ob vielleicht die Rückschläge, die wir gehabt haben in den letzten Jahren. Auch etwas mit diesem Phänomen zu tun haben. Das war schon ein sehr hellsichtiger Zusammenhang, den er da propagiert hat."
Nur einmal hat das Mierscheidsche Gesetz versagt. Leider entscheidend für die Sozialdemokraten. 2005. Die vorgezogene Bundestagswahl. Die Rohstahlproduktion steigt damals auf 40 Millionen Tonnen. Die SPD fällt: auf 34,2 Prozent. Angela Merkel wird Kanzlerin.
Niemand ist perfekt. Auch Mierscheid nicht. Noch vor der Wahl erklärt er in einem seiner berühmten Briefe, die er stets in Sütterlin unterzeichnet, warum die CDU-Politikerin Merkel keinesfalls gewinnen könne. Die Geschichte habe gezeigt:
Alle bisherigen Kanzler haben auf kommunaler und/oder Länderebene umfangreiche politische Erfahrungen gesammelt. [...] Kein Kanzler hat eine reine Bundeskarriere gemacht.
Auch bei den Initialen gibt es Regeln: Der Anfangsbuchstabe wechselt zwar immer. Aber mit einem Vokal hat noch kein Kanzlervorname angefangen. Daran ist schon Edmund Stoiber gescheitert.
Physiker werden nicht Kanzler. Politik ist kein Labor.
Nach Ludwig Erhard hat eine Reihe begonnen. Die nachfolgenden Kanzler haben immer länger amtiert als ihre Vorgänger. Helmut Kohl hat 16 Jahre regiert. Deshalb steht noch eine Menge Schröder an."
Auch sonst hat Mierscheid 2005 kein Glück mit Frauen. Er eckt an, als das Gerücht aufkommt, er habe die damalige Gesundheitsministerin der rot-grünen Regierung, Ulla Schmidt, zum Unwort des Jahres vorgeschlagen. Wegen der geplanten Reformen im Gesundheitssystem:
"Also, da hatte ich wirklich eine Begegnung mit ihm."
... erzählt die Aachnerin, die heute Vizepräsidentin des Bundestages ist.
"Er hat mir glaubhaft versichert, dass er das nicht gemacht hat."
Und selbst wenn, dann hätte sie ihm längst verziehen. Diesem Mann kann man nicht lange böse sein. Eines aber wird damals deutlich: Mierscheid hat ein ganz anderes Problem. Sein Ruhm lockt Trittbrettfahrer an, die versuchen, in seinem Namen zu sprechen. Alle Fraktionen wollen ein Stück des phänomenalen Abgeordneten:
„Das ging sogar so weit, dass ein parlamentarischer Staatssekretär des Bundesverteidigungsministeriums sich die Popularität von Mierscheid zunutze gemacht hat, indem er selber einen Mierscheid-Brief an sich geschrieben hat, den er dann beantworten konnte und dann an die Presse gegeben hat. ER hat Mierscheid benutzt, um sich selber Öffentlichkeit zu verschaffen."
Ebenfalls 2005 berichten Medien, der langjährige Sozialdemokrat wolle der SPD den Rücken kehren. Wolle zur Linkspartei wechseln:
(Wollner) "Da musste sofort reagiert werden. Es gab ungezählte Medienanrufe, Mails und SMS, die sofort beantwortet werden mussten. Und dann hat die Pressestelle der SPD-Bundestagsfraktion dabei geholfen, das ganz schnell wieder einzusammeln. Sonst wäre das nicht beherrschbar gewesen. Und es hätte sich festgesetzt, Mierscheid hätte die SPD verlassen. Was er nie tun würde."
"Er hat ja auch immer seinen Stammbaum darauf zurückgeführt, dass wahrscheinlich auch der Schinderhannes einer seiner Vorfahren ist. Sozusagen der Robin Hood des Hundsrücks. Und dieses Moment, für die kleinen Leute kämpfen, sich für sie schlagen, das ist bei ihm immer bei ihm gewesen. Und das ist natürlich auch eine Eigenschaft, die die Sozialdemokraten haben. Und auf die wir auch stolz sind."
Bei aller Werbung: Mierscheid ist ein kritischer Geist. Auch seine eigene Partei, seine Fraktion, verschont er nicht. Ganz in der Tradition des großen Sozialdemokraten August Bebel:
"Sagen, was ist. Nur wenn man sagt, was ist, und alle Vorurteile beiseite lässt, kann man auch wirklich zu guten Ergebnissen kommen. Und das hat er immer so gehalten. Und das war immer überzeugend. Sagen, was ist. Auch wenn es mal nicht so leicht ist."
... erinnert sich Franz Müntefering. Den sozialdemokratischen Abgeordneten hat das oft geholfen:
"Viele von uns haben sich auch ein bisschen hinter ihm versteckt. Oft, wenn was Politisches gesagt wurde, hat man es besser gewusst, aber man wollte dann den Frieden nicht stören oder wollte nicht gegen die öffentliche Meinung angehen."
Drei Väter hatte Mierscheid
Den Schneidermeister aus dem Hunsrück schert das nicht. Sein langjährige Weggefährte Friedhelm Wollner erklärt das mit Mierscheids Biografie:
"Jakob Mierscheid ist in die Welt gekommen als Nachrücker vom am gleichen Tag verstorbenen Carlo Schmid. Ein bedeutender Parlamentarier, einer der Väter des Grundgesetzes, der auch mal Minister gewesen ist. Der hat zwar nicht mehr dem Bundestag angehört, aber Mierscheid ist für ihn nachgerückt."
Wollner, bis zu seiner Pensionierung Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, kümmert sich bis heute um den Schriftverkehr des fiktiven Abgeordneten. Väter hat der 1979 geschaffene Abgeordnete aber drei:
"Den Namen hat Karl Haehser beigesteuert, die Geburtsdaten haben wir dann von Dietrich Sperling genommen. Und von Peter Würtz den zweiten Vornamen. Nämlich Maria. Jakob Maria Mierscheid."
Der Mann mit den zwei Geburtsdaten. März 1933 in Morbach. Dezember 1979 in Bonn.
(Wollner) "Der Hintergrund ist eigentlich, dass die drei auch der Auffassung waren, dass der trockene Parlamentsbetrieb in Bonn eigentlich eine Auflockerung brauchte. Und etwas Humor brauchte. Daneben auch eine Figur brauchte, die auch in der Lage war, Dinge zu sagen, die ein normaler Abgeordneter so nicht sagen konnte. Weil es ihm übel genommen worden wäre."
(Müntefering) "Alle Politik beginnt mit dem Stellen der richtigen Fragen. Und manchmal hat Politik die Neigung, die Antworten schon zu geben, bevor die Fragen überhaupt gestellt sind. Und der Jakob hat immer den Weg gefunden, die Fragen zu stellen und auf den Punkt zu bringen, auf den es dann eigentlich ankommt."
(Schmidt) "Das ist halt das Besondere an der SPD. Wir sind eine diskussionsfreudige Partei, und wir haben uns auch immer selber ein bisschen auf den Arm nehmen können. Und ich glaube, das gehört dazu, dass man einen solchen Abgeordneten auch 35 Jahre lang in den eigenen Reihen hat."
Bis heute lässt Mierscheid von sich hören. Auch die Große Koalition kann ihn nicht bremsen. Mierscheid hat das letzte Wort:
"Ein bisschen Opposition ist immer. Auch wenn wir wieder regieren. Bloß sagen wir das dann anders. Und deshalb komme ich wieder: Es stimmt ja keiner gegen mich."
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