Paralympics in Pyeongchang

Teilhabe für Menschen mit Handicap?

Die offiziellen Maskottchen der Olympischen Winterspiele 2018 (Soohorang, links) und der Winter-Paralympics 2018 (Bandabi, rechts) vor dem südkoreanischen Parlament in Seoul. Foto
Die offiziellen Maskottchen der Olympischen Winterspiele 2018 (Soohorang, links) und der Winter-Paralympics 2018 (Bandabi, rechts) © picture alliance/dpa/Daniel Kalker
Von Ronny Blaschke · 25.02.2018
Die paralympische Bewegung behauptet gern, dass ihre Weltspiele den Menschen mit Behinderung helfen. Aber gab es wirklich einen Bewusstseinswandel in den Gastgeberländern der Paralympics? Wie steht es beispielsweise um Barrierefreiheit und Teilhabe in London, Sotschi oder Rio?
Nach mehr als 20 Jahren fanden die Paralympics 1988 wieder am selben Ort statt wie die Sommerspiele. Die Eröffnungsfeier in Seoul war ausverkauft. Tausende Zuschauer schwenkten Fähnchen. Mit dabei: der damals 34 Jahre alte Volleyballer Karl Quade. Er lernte ein Land im Aufbruch kennen.
"Studentenrevolten, also das, was bei uns in den Sechzigern war, das war so in den Achtzigern in Korea. Man mauserte sich in Richtung Demokratie, sage ich mal vorsichtiger. Das war interessant, obwohl wir viel unpolitischer waren als die Athleten heute vielleicht. Die Menschen selber waren unglaublich aufgeschlossen. Die empfanden das alle als ganz spannend. Weil die allerallermeisten hatten auch nie Kontakt zu Mitteleuropäern, und auch nicht zu Amerikanern."
Nach der Militärdiktatur symbolisierten auch die Paralympischen Sommerspiele 1988 in Seoul die allmähliche Öffnung der südkoreanischen Gesellschaft. Journalisten, die aus Deutschland über das Ereignis berichteten, ließen sich an einer Hand abzählen. Ticketverkauf, Fernsehrechte, Athletenvermarktung: das alles lag noch in der Zukunft. Aber: Stadtverwaltung, Schulen und religiöse Gruppen in Seoul luden tausende Gäste in die Sportstätten ein.
"Da kamen dann die Busse an. Die, die hinten ausstiegen, erhielten deutsche Fähnchen. Und die, die auf der anderen Seite ausstiegen, bekamen französische Fähnchen. Und dann haben die da drinnen Party gemacht. Da was richtig laut. Und da gab es bestimmte Songs, die habe ich heute noch in Erinnerung. Das war ein unglaubliches Feeling für uns. Die wir ja gewohnt waren, sehr stark unter Ausschluss der Öffentlichkeit unseren Sport zu betreiben."
Jahrzehntelang wurden Menschen mit Behinderung in Südkorea wie Aussätzige behandelt. Es fehlten barrierefreie Gebäude und Integrationspläne. Auch, weil die japanische Kolonialmacht bis 1945 an eine "starke Rasse" glaubte. Erst in der Demokratiebewegung der 1980er-Jahre wuchsen Bündnisse gegen Diskriminierung. Die Paralympics in Seoul halfen ihnen bei der Vernetzung. Mit dem Aufbau des Sozialstaats wurden Gesetze erlassen, medizinische Konzepte geschrieben, Einrichtungen gebaut. Doch damit konnte der Bewusstseinswandel nicht überall Schritt halten, berichtet Casper Claassen. Der südafrikanische Forscher studierte Koreanische Geschichte und Kultur in Seoul.

Behinderungenen werden als Strafe betrachtet

"Als Land mit konfuzianischer Vergangenheit ringt Südkorea mit seinem kulturellen Erbe. Zum Beispiel mit der traditionellen Ahnenverehrung: Eltern stecken viel Geld und Energie in die Bildung ihrer Kinder. So können sie sicherstellen, dass sie im hohen Alter von ihren Kindern unterstützt werden. Auf dieses Prinzip stützt sich auch das Pflegesystem. Diese Philosophie kennt aber keinen Plan für Eltern, die sich lebenslang um ein behindertes Kind kümmern müssen. Das macht die Lage komplizierter."
Das Hierarchiesystem des Konfuzianismus setzt Unterschiede zwischen Menschen voraus. So erleben behinderte Menschen mitunter Abneigung oder Mitleid. Auch der Buddhismus prägt die Gesellschaft: danach werden Behinderungen auch als Strafe für ein früheres Leben betrachtet. Der Staat geht hingegen pragmatisch vor: Größere Firmen sind verpflichtet, auch Mitarbeiter mit Behinderung zu beschäftigen. Doch nehmen etliche Unternehmen lieber ein Bußgeld in Kauf. Casper Claassen promoviert derzeit an der Hertie School of Governance in Berlin. Sein Thema: soziales Unternehmertum in Südkorea.
"Die Angebote in Korea wurden stark ausgebaut. Es gibt viele spezielle Einrichtungen für behinderte Menschen, aber oft fühlen sie sich dort von der Gesellschaft isoliert. Viele empfinden es als unwürdig, dass sie in sechs Kategorien eingeordnet werden, je nach Schweregrad der Behinderung. Dieses Stigma erschwert ihre Suche nach einem Job. Die Armutsrate unter Menschen mit Behinderung ist doppelt so hoch wie bei anderen Minderheiten."

Organisatoren und Sponsoren machen Stimmung

Mittlerweile sind in der Megacity Seoul die öffentlichen Gebäude und auch der Nahverkehr meist barrierefrei. Auch technologische Weltkonzerne wie Samsung sind längst auf diesem Markt aktiv. Weniger fortschrittlich sieht es auf dem Land aus, zum Beispiel in der Region Pyeongchang, wo am 9. März die zwölften Winter-Paralympics beginnen.
Die Organisatoren und Sponsoren machen Stimmung. Und sie hoffen, dass der Spitzensport auch den Alltag behinderter Menschen in den Mittelpunkt rückt. Über Monate waren sie für Infoveranstaltungen in Schulen unterwegs. In Pyeongchang selbst fand ein Festival für Musiker mit einer Behinderung statt. Karl Quade steht seit 1996 den deutschen Paralympiern als Chef de Mission vor. Er hat die Entwicklung beobachtet, auch das Trainingszentrum östlich von Seoul.
"Ein Riesenareal mit vielen hundert Betten, mit allen Anlagen, inklusive einer eigenen Curlinghalle zum Beispiel. Für die Leichtathleten fünfzig Meter, auch Schwimmen. Ganz tolle Geschichte."
Die Paralympics waren immer an politische Entwicklungen gekoppelt. In den 1940er Jahren revolutionierte der deutsch-jüdische Neurologe Ludwig Guttmann in der englischen Kleinstadt Stoke Mandeville die Behandlung von Querschnittsgelähmten. Gegen Widerstände, wie ein Spielfilm 2012 nachzeichnete.
Guttmann stieß auf Patienten, die in ihren Rollstühlen übers Parkett fegten und mit Spazierstöcken auf eine Scheibe schlugen. So entstand Rollstuhl-Polo. Wochen später trieben viele Patienten Sport: die Bewegung stärkte ihr Immunsystem, förderte ihr Selbstvertrauen. 1948 organisierte Guttmann einen Wettkampf für Kriegsversehrte. Die Spiele von Stoke Mandeville begannen am selben Tag wie die Olympischen Spiele in London. Christopher Holmes, einer der erfolgreichsten Behindertensportler Großbritanniens, hat als Schwimmer neun paralympische Goldmedaillen gewonnen.
"Es ist herausragend, was Ludwig Guttmann geleistet hat. Er hat das nationalsozialistische Deutschland verlassen und in England eine beeindruckende Karriere gemacht. Mit seiner Leidenschaft hat er das Fundament für die Paralympics gelegt. Davon profitieren wir noch heute. Sein Schatten reicht weit."

Wahrnehmung in der Gesellschaft durch positive Erfahrungen ändern

Lange war Stoke Mandeville des Zentrum. Der Vierjahresrhythmus der Wettbewerbe begann 1960 in Rom, damals als "Weltspiele der Gelähmten". Die Entwicklung verlief nicht linear. 1984 weigerte sich Los Angeles, die Paralympics auszutragen. Die Begründung: Dies passe nicht zum makellosen Image der Stadt. Es folgten beachtliche Paralympics: zum Beispiel im Sommer 1992 in Barcelona.
Doch schon zwei Jahre später Ernüchterung. Die Organisatoren in Atlanta ließen etliche Sportstätten unmittelbar nach Olympia abbauen, so dass die behinderten Athleten in Ruinen auftreten mussten. Doch danach war die Professionalisierung nicht mehr aufzuhalten.
"Schon die Vorbereitung auf die Spiele bietet eine große Chance. Denn die Menschen in den Gastgeberländern sehen bestimmte Themen aus einer neuen Perspektive."
Der Brite Philip Craven war zwischen 2001 und 2017 Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees, des IPC. Für seine Verdienste wurde der frühere Rollstuhlbasketballer von der Königin in den Adelsstand gehoben.
"Das Wort Behindert klingt negativ. Die Wahrnehmung in der Gesellschaft lässt sich nicht durch schärfere Gesetze verändern, sondern nur durch positive Erfahrungen. Wenn also das Fernsehen die Wettkämpfe überträgt, wenn Athleten des Gastgebers Erfolg haben, dann werden viele Menschen ihre Haltung überdenken. Sieben Jahre von der Vergabe der Paralympics bis zu den eigentlichen Wettkämpfen sind wichtig, aber manchmal nicht ausreichend. Wir müssen die Transformation auch danach vorantreiben. Es könnte zwanzig oder dreißig Jahre dauern, um einen wirklichen Wandel zu erkennen."
Philip Craven verweist gern auf Peking. Vor den Paralympics 2008 wurde dort ein Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet. Es entstand ein Forschungsinstitut und das weltweit größte Trainingszentrum. Rampen und Fahrstühle wurden in der Hauptstadt gebaut. An der Spitze der Offensive stand Deng Pufang, der querschnittsgelähmte Sohn des Staatsreformers Deng Xiaoping.

Russisches Fernsehen stellte Paralympier erstmals als Helden dar
Marieke Vervoort jubelt nach dem Rennen über 100 Meter Handbike in London 
Marieke Vervoort freut sich in London über ihre Goldmedaille über 100 Meter in der Kategorie Handbike.© AFP / Adrian Dennis
Seit 2004 belegte China bei den Sommer-Paralympics stets den ersten Platz des Medaillenspiegels. Ob davon auch Breitensportler oder Unfallopfer in der Rehabilitation profitieren, ist nicht klar. Menschen mit einer geistigen Behinderung müssen nach wie vor mit einer Zwangseinweisung rechnen. Die Strukturen zwischen Peking und den Provinzen sind unterschiedlich.
"Vor allem die westlichen Medien sollten einsehen, dass sie die Welt nicht nur aus ihrer Perspektive bewerten können. Sie sollten sich auf die Kultur von anderen Ländern einlassen, statt ihnen ihre Meinung aufzudrücken. Auch wenn wir gegen bestimmte politische Grundsätze sind, die in einem Land herrschen, so gibt es nur einen Weg für einen Wandel: Wir müssen in dieses Land reisen und mit den Leuten über heikle Themen sprechen."
Das gilt auch für 2014. Die pompösen Winter-Paralympics am Schwarzen Meer machten einen Wandel deutlich. Lange war es in der Sowjetunion Tradition, behinderte Kinder oder Erwachsene in Heimen unterzubringen. Ihnen wurde der Zutritt verwehrt, zu Bussen, Flugzeugen, Restaurants. Ärzte haben Frauen zu Abtreibungen gedrängt. 1980, nach den Olympischen Sommerspielen in Moskau statt, weigerte sich die Sowjetunion, auch die Paralympics zu organisieren. 2014 in Sotschi ein komplett anderes Bild: Erstmals stellte das russische Fernsehen Paralympier als Helden dar. Wenzel Michalski ist bei Human Rights Watch Direkter des deutschen Büros.
"Es hat sich zum Beispiel in Russland gezeigt, dass selbst ein sturer Staatsapparat, wie der russische einer ist, gerade im Rahmen der Paralympics handeln kann. Wir haben also erreicht, dass die doch erhöhte Popularität der Paralympics, als die dann in Sotschi stattgefunden haben, die Politiker geöffnet haben. Und mehr getan wurde in Moskau, um das Leben für Menschen mit Behinderung zu erleichtern. Zum Beispiel Barrierefreiheit beim Zugang in die Metro, die vorher überhaupt nicht gegeben war. Das hat sich jetzt sehr verbessert. Oder aber auch zu Krankenhäusern und Schulen."
Die Vorbereitungen auf Sotschi fanden vor der russischen Annexion der Krim statt. Viele internationale Beziehungen zu Russland sind seitdem gekappt. Wegen des staatlich gestützten Dopings wurden die russischen Paralympier von den Sommerspielen 2016 in Rio ausgeschlossen. Wenzel Michalski ergänzt, dass der Druck, Behindertenrechte ernst zu nehmen, vor allem von Menschenrechtlern und Medien kam.
"Und da erwarte ich auch von der olympischen Bewegung, dass sie eben solche Gelegenheiten, die sich dann bieten, auch nutzt, um ihre eigenen Werte voranzutreiben."
In den Medien spielt Behindertensport vor allem während der Paralympics eine Rolle. Doch im Hintergrund entsteht ein Wissenstransfer, von denen die Gastgeber lange profitieren: Politiker vergleichen Gesetzestexte. Wissenschaftler laden zu Symposien ein. Prothesenhersteller diskutieren über Neuerungen.
So entstand auch vor den Sommer-Paralympics 2016 in Rio eine Aufbruchsstimmung, berichtet Andrew Parsons. Der langjährige Chef des Paralympischen Komitees Brasiliens ist seit 2017 Philip Cravens Nachfolger als Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees.
"Ein wichtiges Vermächtnis war, dass die Regierung schon frühzeitig ein Gesetz zur Inklusion verabschiedet hatte. Darüber hinaus gibt es in Rio eine neue Metrolinie und viele modernisierte Stadtbusse. Wir haben viele Programme angestoßen, um bei Jugendlichen das Bewusstsein gegenüber Behinderungen zu verändern. In Sao Paulo ist ein modernes Trainingszentrum entstanden, für 15 paralympische Sportarten. Davon soll nicht nur der Leistungssport profitieren. Wir möchten dieses Zentrum auch für Athleten aus anderen lateinamerikanischen Ländern öffnen. Die Spiele sollen einer Stadt zugute kommen. Und nicht anders herum."
Brasilien steckt in der Krise. Millionenschwere Stadien von Fußball-WM 2014 und Olympia 2016 werden nicht mehr gebraucht. Krankhäuser, Schulen und Polizeistationen leiden unter Sparzwang. Die Kriminalität wächst, das Gefälle zwischen Arm und Reich auch, und so werden auch künftig hunderttausende behinderte Menschen in den Favelas nur selten ihre Wohnungen verlassen können. In der medialen Schnelllebigkeit wirken die Paralympics 2016 ohnehin weit weg.

Barrierefreiheit in Pyeongchang: keine Spur

Das Internationale Paralympische Komitee möchte in der Gegenwart ähnliche Schlagzeilen schreiben wie die Kollegen des Olympischen Komitees. Auch mit einer Annäherung an Nordkorea. Besonders in Erinnerung dürften von Olympia 2018 die synchron klatschenden Fans von Nordkorea bleiben. In wenigen Tagen sollen die beiden Skilangläufer Jonghyon Kim and Yuchol Ma unter gemeinsamer Flagge mit ihren südkoreanischen Kollegen einlaufen. IPC-Präsident Andrew Parsons hatte sich über Monate mit der ersten Teilnahme Nordkoreas an Winter-Paralympics beschäftigt. Dafür hatte er auch bei Südkoreas Präsident Moon Jae-in vorgesprochen. Parsons wird in einer offiziellen Mitteilung so zitiert:
"Ich denke, dass die Teilnahme Nordkoreas ein starker Beleg ist für die Frieden stiftende Kraft des Sports."
Überschwängliche Worte - nicht neu im Sport. Doch einige Menschenrechter glauben, dass sie zur Verharmlosung beitragen können. Laut Zeugenaussagen gehe das nordkoreanische Regime brutal gegen behinderte Menschen vor. Sie sollen systematisch ausgeschlossen und mitunter in abgelegenen Lagern gefoltert werden, auch von medizinischen und chemischen Tests ist die Rede. Neugeborene mit Behinderung blieben oftmals "verschwunden". Von Barrierefreiheit und inklusiver Bildung in Pjöngjang: keine Spur. Wie sich das IPC dazu auf der Weltbühne nun wohl verhalten wird?
Und was bringen die Paralympics einem Land, in dem die Standards vergleichsweise hoch sind? Vor den Winterspielen in Vancouver 2010 setzten sich Aktivisten für einen behindertengerechten Tourismus ein. Kanadische Medien stellten vermehrt Redakteure mit einer Behinderung ein. In Schulen konnten sich Jugendliche mit paralympischen Sportarten vertraut machen: Rollstuhlbasketball oder Sitzvolleyball.
Markus Rehm bei den Paralympics in Rio.
Markus Rehm bei den Paralympics in Rio.© dpa/ picture alliance/Jens Buettner
Eine neue Stufe erreichte die paralymische Bewegung in London, anlässlich der Sommerspiele 2012. Erstmals gab es einen Bieterstreit um die Übertragungsrechte. Die Vermarktung der Athleten erinnerte an den Unterhaltungsbetrieb Olympia. Bei den Spielen waren die Wettkampfstätten ausverkauft. Museen, Festivals, Konzerte. Im Organisationskomitee damals in leitender Funktion war der ehemalige Schwimmer Christopher Holmes.
"Es war das erste Mal überhaupt, dass es ein gemeinsames Organisationskomitee gab. Wir hatten keine Trennungen zwischen paralympischen und olympischen Aufgaben. Ob Transport, Technik, Logistik oder Versorgung: Die Mitarbeiter beschäftigten sich mit beiden Spielen. Vermutlich ist das eines der wichtigsten Vermächtnisse von 2012. In diese Richtung sollte es gehen."
Die Briten reformierten ihr Fördersystem. Trainerausbildung, Prämienregeln oder Antidopingmaßnahmen orientierten sich an nichtbehinderten und an behinderten Athleten. 2012 belegten die Briten bei ihren Heimspielen den dritten Platz im Medaillenspiegel, 2016 in Rio kletterten sie auf Rang zwei. Einen vergleichbaren Ansatz der Inklusion gibt es in Kanada, mit Abstrichen auch in Skandinavien und in den Niederlanden.
In Deutschland fanden einmal Paralympics statt, im Sommer 1972 in Heidelberg. Dass die Weltspiele auf absehbare nicht nach Deutschland zurückkehren, findet Verena Bentele schade. Bei paralympischen Winterspielen hatte sie zwölf Goldmedaillen gewonnen, seit 2014 ist sie Behindertenbeauftragte der Bundesregierung.
"Für Deutschland würden die Spiele bedeuten, dass wirklich Infrastruktur noch mal verändert wird. Wir haben immer noch sehr viele Sportanlagen, Trainingsplätze oder auch Schulen, die einfach nicht so barrierefrei sind, dass da Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen gut trainieren können. Da wäre natürlich auch die Investition in barrierefreie Wohnmöglichkeiten eine Sache gewesen, die absolut in der Zukunft nötig ist, weil wir immer mehr ältere Menschen haben. Immer mehr Menschen, die mit ihren Behinderungen auch immer länger leben, Gott sei Dank. Aber damit steigt auch der Bedarf an bezahlbarem und barrierefreiem Wohnraum. Und für all diese Dinge wären meines Erachtens die wirklich eine tolle Chance gewesen."

Drei Viertel der Briten sehen Behinderungen nun positiver

Graubünden, Oslo, Boston oder Rom. Stockholm, Krakau oder Budapest. In diesen Städten haben sich Bevölkerungen oder Regierungen gegen Olympia entschieden – und gegen Paralympics. Die Münchner lehnten in einem Bürgerbegehren eine Bewerbung für 2022 ab, die Hamburger eine Bewerbung für 2024. Beide Städte verzeichnen ein Wachstum. Beide Städte hatten beachtliche Konzepte vorgelegt, Hamburg den Plan für einen komplett barrierefreien Stadtteil. Thomas Abel, Experte für Paralympischen Sport an der Sporthochschule Köln.
"Ich glaube, wenn man einer Bevölkerung klarer gemacht hätte: es geht uns nicht darum, diesen Hype da abzubilden, diese großen Dinge zu tun, die vor allem etwas mit nicht nachvollziehbaren Vergaberichtlinien und Geldströmen zu tun hat. Sondern es geht uns darum, zu zeigen: Wir verändern eine Stadt für diese Spiele. Wir verändern sie nachhaltig. Und zwar in einem ökologischen Bewusstsein. Aber auch in einem Bewusstsein, dass uns das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung auch etwas wert ist. Also Investitionen, zum Beispiel in Barrierefreiheit. Und das heißt ja nicht nur, dass man abgesenkte Bordsteinkanten hat. Sondern das geht ja viel weiter: Für Menschen, die hörgeschädigt sind. Für Menschen, die sehgeschädigt sind. Wenn man das verstanden hätte, dass das etwas ist, was nachhaltig eine Stadt verändert und auch ein Klima verändern kann. Dieses Miteinander, also wir haben eine Solidargemeinschaft. Das ist eine große Chance, die da verloren gegangen ist."
In Berlin finden im August kurz nacheinander die Europameisterschaften der nichtbehinderten und der behinderten Leichtathleten statt. Allerdings mit getrennten Organisationen. Der Deutsche Behindertensportverband erarbeitet eine Strategie, um noch mehr Einfluss zu gewinnen. Im Fokus: Nachhaltigkeit. Künftig sollten Untersuchungen zu den Nachwirkungen von Sportereignissen frühzeitig festgeschrieben werden, findet Verena Bentele.
"Ich als Beauftragte kann da vielleicht auch nicht so viel machen, wie es ein großer Sportverband wie der DOSB beziehungsweise die deutsche Bundesregierung können. Da wirklich nachhaltig auch mal dranzubleiben und darüber zu berichten. Und da vielleicht in einem engen Austausch mit dem jeweiligen Land zu bleiben, das solche Sportereignisse austrägt, finde ich, wäre ein gutes Projekt auch der nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit der Zukunft."
Als eine von wenigen Städten hat London die Wirkung seiner Spiele 2012 genau erforschen lassen: Drei Viertel der Briten gaben in einer Umfrage an, Behinderungen nun positiver zu sehen. Achtzig Prozent der Befragten mit einem Handicap möchten künftig selbst mehr Sport treiben. Solche Zahlen könnten in der deutschen Debatte um Sportereignisse auch eine Rolle spielen. Bislang ist das aber Utopie.
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