Parabel über die Absurdität des Daseins

Rezensiert von Jörg Magenau · 27.12.2005
Der Roman bietet die Gelegenheit, einen Autor zu entdecken, der zu den großen Unbekannten der deutschen Literatur zählt. Ernst Augustin hat bereits neun Romane publiziert. Nach seiner Flucht aus der DDR reüssierte er in der Gruppe 47. "Eastend" nimmt die bundesdeutsche Psychogruppenmentalität der 70er Jahre auf die Schippe.
Der Ton wirkt frisch und kein bisschen angestaubt. Psychogruppen, die ihren Mitgliedern die Seele aus dem Leib zerren, gibt es nach wie vor, und ein Bombenalarm in London – damit endet das Buch – kommt heutigen Lesern ebenfalls sehr aktuell vor. Dabei ist "Eastend" von Ernst Augustin ein Roman aus dem Jahr 1982, der in den späten 70ern spielt. Er handelt von dem mäßig erfolgreichen Schriftsteller Almund Grau, der sich von seiner Freundin Kerrie verführen lässt, "in die Gruppe" zu gehen, und der dort erwartungsgemäß als Bösewicht entlarvt und von Kerrie verlassen wird.

Er reist nach Hamburg zu seinem Verleger (der ihn freundlich vertröstet), nach Schwerin in die DDR, wo er die realsozialistische Tristesse atmet, und schließlich in die Berge, um sich umzubringen. Der Selbstmordversuch im Schnee scheitert an plötzlich einsetzendem Föhn, und so entschließt er sich, in London ein neues Leben zu beginnen. Dort verwandelt er sich mit Hilfe eines obskuren Immobilienhändlers, den er aus einem riesigen Eisschrank befreit, in den Psychoanalytiker Almond Gray und kehrt schließlich, zum Psychoexperten aufgerüstet, nach München zurück, um an der Gruppe und ihrem mächtigen Guru Rache zu nehmen.

Im Verlag C.H. Beck, der das Werk Augustins von Suhrkamp übernommen hat, ist "Eastend" nun neu herausgekommen. Der Roman bietet die Gelegenheit, einen Autor zu entdecken, der zu den großen Unbekannten der deutschen Literatur zu zählen ist. Neun Romane hat Augustin seit seinem Debüt im Jahr 1962 geschrieben. 1966 reüssierte er in der Gruppe 47 mit einem Ausschnitt aus seinem Roman "Mama".

Von der Kritik hoch gelobt, blieb ihm im Unterschied zu seinen Generationsgenossen Grass und Walser, die wie er 1927 geboren wurden, der große Erfolg verwehrt. Das hat damit zu tun, dass er als leichter – das heißt: als unterhaltender, humorvoller, komischer – Autor gilt, zugleich aber auch als einer, der irgendwie schwierige Bücher schreibt: formal anspruchsvoll, psychologisch komplex und postmodern schillernd.

Dass er sich in der bundesdeutschen Literaturabteilung schwer tat, hängt aber auch mit seiner Biografie zusammen. 1961 kam er als Flüchtling aus der DDR nach München. In Hirschberg, dem heutigen Jelenia Gora geboren, hatte er in Schwerin das Abitur abgelegt, in Rostock Medizin studiert und schließlich in der Psychiatrischen Abteilung der Berliner Charité gearbeitet. 1958 ging er für drei Jahre als Leiter eines amerikanischen Krankenhauses nach Afghanistan und wurde nach seiner Rückkehr Assistenzarzt in München. Erst hier, in den 60er Jahren, begann er – gewissermaßen als Quereinsteiger in den Schriftstellerberuf – zu publizieren.

Die Stationen seiner Biografie lassen sich auch in seinem schriftstellerischen Werk auffinden, das vom psychiatrischen Blick auf den Menschen geprägt ist. Doch was in der Medizin als Krankheitsdiagnose erscheinen würde, verwandelt sich in Augustins Literatur in eher heitere Parabeln über die Absurdität des Daseins und die grotesken Momente des menschlichen Miteinanders.

"Eastend" nimmt die Psychogruppenmentalität der 70er Jahre gehörig auf die Schippe – ein Thema, das Augustin in seinem jüngsten Roman "Die Schule der Nackten" aus dem Jahr 2003 noch einmal in ganz ähnlicher Form aufgenommen hat. "Eastend" ist aber das Original und gehört zu den besten Büchern Augustins.

Auch die Reise nach Schwerin mit einer milden Enttäuschung des Helden über den wenig theatralischen Grenzübertritt ist eine Reminiszenz an die eigene Herkunft. Augustin erlaubt sich den spielerischen Umgang mit erzählerischen Zusammenhängen. Die Münchener Szene und die Beschreibungen des Londoner Eastends, wie es heute längst nicht mehr existiert, haben nicht viel miteinander zu tun und sind nur durch den äußeren Handlungsrahmen notdürftig in einem Roman unterzubringen. Aber das macht nichts. Die einzelnen, wundervollen und wunderbar genau gezeichneten Episoden entschädigen für kompositorische Mängel.

Am schönsten sind die Geschichten, die sich Almund und Kerrie erzählten, als sie noch ein Paar waren. Sie denken sich aus, wann sie sich in früheren Leben begegnet sein könnten – etwa als Hahn und Henne im griechischen Antiochia, die mit dem Kopf nach unten an eine Stange gebunden sind und zur Schlachtung getragen werden. Aus ihren roten, gefolterten Augen blickten sie sich an und wussten, dass sie füreinander bestimmt gewesen wären. Aber da war es zu spät, und sie mussten auf ein späteres Dasein hoffen. Wie kostbar wird vor diesem Hintergrund jeder Augenblick der gemeinsamen Gegenwart. Es ist also abzusehen, dass es bei der schmerzlichen Trennung nicht bleiben wird. Aber man sollte nicht zu viel verraten, sondern Ernst Augustin endlich lesen. Er hat es verdient.

Ernst Augustin:
Eastend.
Roman.

C.H. Beck, München 2005,
328 Seiten, 22,90 Euro