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Entlassungen an Istanbuls Theatern
"Kulturschaffende leiden unter einem ständig wachsenden Druck"

Nach dem Putschversuch in der Türkei wächst im Land auch der Druck auf Kulturschaffende. Die jüngste Entlassung von Angestellten der Städtischen Bühnen Istanbuls könnte der Beginn einer neuen Periode sein, sagte die Journalistin Luise Samman im DLF. Denn diesen Schauspielern könne keine Verbindung zur Gülen-Bewegung nachgesagt werden.

Luise Samman im Gespräch mit Dina Netz | 03.08.2016
    Türkische Flagge auf dem Taksim-Platz in Istanbul
    Journalistin Luisa Samman: "Es gibt viele indirekte Druckmechanismen" (dpa / picture alliance / Marius Becker)
    Dina Netz: Der Schriftsteller Orhan Pamuk wollte sich nicht zum türkischen Staatskünstler ernennen lassen. Als er dann auch noch den Völkermord an den Armeniern einen solchen nannte, hatte er einen Prozess wegen Verleumdung des Türkentums am Hals. Nach vielem Hin und Her wurde Pamuk zu einer Geldstrafe verurteilt. Der türkische Pianist und Komponist Fazil Say wurde wegen Beleidigung des Islams zu einer Bewährungsstrafe verurteilt – er hatte sich in einem Twitter-Eintrag über islamische Paradiesvorstellungen lustig gemacht.
    Warum erzähle ich Ihnen jetzt diese alten Kamellen? Weil man daran sieht, dass auch international bekannte Künstler in der Türkei schon bisher nicht ungestraft ihre Meinung sagen konnten. Nach dem Putschversuch geht es nun, nach den Journalisten, offenbar auch Kulturschaffenden an den Kragen. Die Zeitung "Hürriyet" meldet, dass Regisseure und Schauspieler der Städtischen Bühnen Istanbuls entlassen wurden, beziehungsweise zunächst ist von Suspendierungen die Rede. Ich habe Luise Samman in Istanbul gefragt, was wissen Sie über diese Entlassungen?
    "Keine Verbindung zur Gülen-Bewegung"
    Luise Samman: Es gibt im Moment ganz wenig richtig offizielle Informationen darüber, auch hier. Wir wissen, dass es sechs oder auch sieben Angestellte am Städtischen Theater wohl getroffen hat. Und der Grund ist, wie immer ja eigentlich hier in den letzten Tagen, eine angebliche Verbindung zur Terrororganisation von Fethullah Gülen. Das ist ja hier momentan so ein bisschen das Totschlagargument. Was an diesem Fall jetzt wirklich interessant ist und wieso ich mir vorstellen könnte, dass er auch hier ein neues Kapitel eröffnen könnte, ist, dass es ganz so aussieht, als ob diesen Schauspielern wirklich überhaupt keine Verbindung zur Gülen-Bewegung nachgesagt werden kann.
    Ich habe mit einem davon zufällig vor etwa einem halben Jahr selber noch ein Interview gemacht, allgemein über den wachsenden Druck auf Kulturschaffende. Und ich erinnere mich gut daran, dass er ein begeisterter und auch bekennender Raki-Trinker war. Und das passt ja nun wirklich gar nicht zu einem Anhänger des islamischen Netzwerks Fethullah Gülen. Bisher war es so, dass bei den meisten Fällen dieser Gülen-Vorwurf für viele Leute doch immerhin irgendwie noch Sinn gemacht hat oder auf jeden Fall eine Möglichkeit bestand und deswegen die Kritik daran auch relativ gering war. In diesem Fall habe ich das Gefühl, es könnte anders kommen.
    Netz: Ich habe ja eingangs schon gesagt, kritische Kulturschaffende hatten es in der Türkei immer schon schwer, das ist ja nichts Neues. Ist die Situation denn jetzt so viel anders?
    Samman: Eigentlich nicht. Es ist ja so, dass die Kulturschaffenden hier eigentlich seit den Gezi-Protesten im Sommer 2013 unter einem ständig wachsenden Druck leiden. Gerade auch dieses Städtische Theater Istanbul, von dem wir jetzt gerade gesprochen haben mit den sechs Suspendierungen, das ist dafür bekannt, dass es in regierungskritische Stimmen in den letzten Jahren systematisch eigentlich entlassen oder von der Bühne geholt hat. Das heißt, das passt jetzt da auch in so eine Art Schema. Worüber sich ganz viele beschweren, dass es nicht direkte Zensur oft gibt, sondern dass es indirekte Druckmechanismen gibt. Dass ihnen die Genehmigungen nicht erteilt werden, um ihre Stücke irgendwo aufzuführen, dass ihnen die Bühnen entzogen werden.
    Es gibt einen ganz bekannten Fall hier, Rumeli Hisari, das ist eine Schlossruine mit einem Park, und da haben früher regelmäßig legendäre, große Konzerte stattgefunden, bis die Erdogan-Regierung eine Moschee mitten in diesem Park gestellt hat, sodass Konzerte da jetzt nicht mehr möglich sind. Das ist eine Form des indirekten Drucks, und das haben wir in den letzten Jahren hier ja ohnehin eigentlich ständig erlebt. Und deswegen sagen viele Kulturschaffende, mit denen ich in diesen Tagen spreche, dass für sie dieser Ausnahmezustand gar nicht so viel verändert hat. Sie sind daran gewöhnt, dass es sie jeden Tag treffen könnte.
    "Für die meisten Türken ergeben diese Verhaftungen einen Sinn"
    Netz: Trotzdem sagten Sie vorhin, Frau Samman, dass jetzt die Verhaftung dieser Theaterleute vielleicht ein neues Kapitel aufschlage. Wie ist denn die Atmosphäre jetzt? Hat man Angst, dass wahllos jeder verhaftet wird, so wie sich das von Deutschland aus darstellt?
    Samman: Nein. Genau deswegen habe ich diese Sache mit dem neuen Kapitel, schoss mir durch den Kopf eben. Ich fange mal so an: Es ist tatsächlich im Moment noch so, dass für die meisten Türken diese Verhaftungen einen Sinn ergeben, weil sie sich nämlich noch im Großen und Ganzen noch sehr deutlich auf diese Fethullah-Gülen-Bewegung konzentrieren, und die gilt auch und gerade eigentlich sogar den säkularen, Erdogan-kritischen Türken als großes, großes Übel und als große Gefahr, schon lange, schon in der Zeit, als Erdogan noch mit dieser Bewegung sympathisierte.
    Und so sind viele regierungskritische Türken in diesen Tagen also eigentlich einverstanden mit diesen Operationen, mit diesen Verhaftungs- und Entlassungswellen, weil das etwas ist, was sie schon lange gefordert haben, dass diese Gülenisten aus dem Staatswesen entfernt werden. Das bringt viele Erdogan-Kritiker in eine Art Zerrissenheit, nämlich, dass ausgerechnet sie plötzlich Erdogan da in gewisser Weise unterstützen. Das heißt, diese Hexenjagd, die sehen die Menschen, mit denen ich hier spreche, noch nicht, auch und gerade nicht die Kulturschaffenden. Sie sehen die Möglichkeit und die Gefahr, dass das Ganze in eine solche Richtung sich entwickelt. Aber sie sagen, bisher ist das noch nicht so weit.
    Und dieser Fall jetzt mit diesen Theaterangestellten, da sage ich deswegen, dass das doch zu einer Art Aufwachen führen könnte hier auch, denn da ist, wie gesagt, die Gülen-Verbindung sehr, sehr schwer ersichtlich. Und ich merke schon jetzt, dass sich etwas tut. Auf Twitter zum Beispiel gibt es jetzt unter dem Hashtag #FassMeinenKollegenNichtAn eine Seite von Kulturschaffenden, die da jetzt kritisieren, was da gerade passiert ist mit diesen Schauspielern. Und die warnen davor, dass sich das jetzt eben doch ausweitet. Das heißt, es könnte sein, dass das jetzt wirklich der Beginn einer neuen Periode ist. Aber bisher, das möchte ich noch einmal betonen, sagen mir gegenüber eigentlich alle, dass sie diese wahllose Verhaftungsgefahr noch nicht sehen.
    Netz: Luise Samman aus Istanbul über den nun wohl zunehmenden Druck auf türkische Kulturschaffende.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.