Obdachlos in Istanbul

Der Kampf um Dach und Job

21:47 Minuten
Ein Mann mit Kopfbedeckung liegt im Halbdunkel bedeckt von einer Decke auf einer Bank neben einem Gebäude mit großen vergitterten Fenstern.
Der 49-jährige Necati Çicek schläft auf einer Bank neben der Kara Davut Moschee in Istanbul. Er ist schon seit über 20 Jahren obdachlos. © Emre Çaylak
Von Emre Çaylak und Nicole Graaf · 05.02.2020
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Etwa 100.000 Menschen leben in der Türkei auf der Straße, 8000 allein in Istanbul. Die Zahl der Obdachlosen ist massiv gestiegen - als Folge von Wirtschaftskrise und hohen Flüchtlingszahlen. Der Staat hilft kaum. Wer kümmert sich also?
Gegen Mitternacht an einem Januartag liegt der Yogurtçu-Park in Istanbuls Szeneviertel Kadıköy verlassen da. Es ist kalt und nieselt. Vom Marmara-Meer, an dessen Ufer der Park grenzt, weht ein eisiger Wind. Eine Frau eilt mit ihrem Hund an einem Kinderspielplatz vorbei. Am Rand des Parks zwischen ein paar Bäumen hat Serkan Üner sich ein Zelt aus Segeltuch gebaut. Es wirkt, als wolle er sich vor dem Rest der Welt verstecken.
Eine weiße zeltartige Plane steht versteckt inmitten von Bäumen.
Ein Zelt aus Segeltuch - Serkan Üners Bleibe im Yoğurtçu-Park im Istanbuler Stadteil Kadıköy.© Emre Çaylak
Serkan Üner ist nicht sein richtiger Name. Den möchte er nicht nennen. Er ist obachlos und schämt sich dafür. Man sieht ihm nicht gleich an, dass er auf der Straße lebt. Der kleine drahtige 35-jährige ist frisch rasiert und hat die schwarzen Haare ordentlich zu einem Seitenscheitel gekämmt. Nur die knielange Winterjacke, die ihm etwas zu groß scheint, und die Sommerhalbschuhe, an denen Matsch aus dem Park klebt, verraten ihn.
"Im Moment sind wir hier neun Leute, inklusive zwei, die nur hin und wieder kommen. Manche von uns übernachten auch in leerstehenden Häusern, die langsam auseinanderfallen. Im Sommer ist hier viel los. Dann sind hier ungefähr 20 bis 25 Leute."

Die vergebliche Suche nach einer Stelle

Üner sitzt unter der Plane auf einem Stück Pappe, darunter der vom Regen aufgeweichte Boden. Er bricht ein paar Stücke aus einer alten Spanholzplatte und steckt sie in einen aufgeschnittenen Olivenölkanister, den er zum Feuermachen benutzt. Er lebt seit sechs Monaten im Yoğurtçu-Park. Üner stammt aus Adıyaman im Südosten der Türkei. Die Gegend ist bekannt für ihren Tabakanbau.
Er war selbstständig als Zwischenhändler für Tabak, den er von den Kleinbauern aufkaufte. In 2017 hat die Regierung jedoch neue Regeln für den Anbau erlassen, die die kleineren Familienbetriebe nicht erfüllen konnten, sodass viele aufgeben mussten. Das trieb auch Üner in den Ruin, denn die Großproduzenten brauchen keine kleinen Zwischenhändler wie ihn. Er versuchte zuerst, vor Ort einen anderen Job zu finden, aber das hat nicht funktioniert.
"Die Haupteinkommensquelle in Adıyaman ist der Tabak. Die neuen Anbaugesetze haben uns das Rückgrat gebrochen. Leider gibt es sonst nicht viele Jobmöglichkeiten dort. Ich habe in der Zeitung eine Anzeige für eine Arbeit auf einer Baustelle in Istanbul gefunden. Die boten mir auch eine Unterkunft dazu an. Aber als ich dann herkam, hieß es, die Bauarbeiten stehen still und sie werden mir keine Stelle geben."
Ein Mann im Anorak, der nur von hinten zu sehen ist, kriecht unter eine große weiße regennasse Plane, die oben mit Seilen befestigt ist.
Beschämt über die eigenen Situation - Serkan Üner will seinen richtigen Namen nicht nennen.© Emre Çaylak
Üner wollte nicht mit leeren Händen zurück zu seiner Familie kehren. Deshalb blieb er in Istanbul und sucht seit sechs Monaten einen Ausweg.
Laut Schätzungen gibt es allein in Istanbul rund 6000 bis 8000 Obachlose und rund 80.000 bis 100.000 im ganzen Land. Genaue Zahlen kennt jedoch niemand, denn es gibt keine offiziellen Zählungen. Dass die Zahl in den letzten Jahren gestiegen sein muss, ist jedoch offenkundig. Heute gehören Obdachlose zu Istanbuls Straßenbild. Ganz anders als etwa noch vor zehn Jahren. Jeder Istanbuler und jeder Besucher der türkischen Metropole wird tagtäglich Zeuge dieser aktuellen "Obdachlosenkrise". Die Menschen sammeln sich in bestimmten Parks oder auf öffentlichen Plätzen.
Mehrere Männer im Anorak stehen oder sitzen im Halbdunkel eines Parks und essen und trinken.
Treffen im Park - abendliche Obdachlosenspeisung der Privatinitiative "Aşhane” im Istanbuler Stadteil Fatih.© Emre Çaylak
Sehr viele Obdachlose in Istanbul stammen aus dem Südosten der Türkei, einer ländlich geprägten Region, die – zumindest materiell - dem Vergleich mit den modernen Städten im Westen nicht standhält. Die seit etwa zwei Jahren andauernde Wirtschaftskrise hat viele in eben jene Städte getrieben, in denen sie sich bessere Zukunftschancen erhofften. Und da steht Istanbul an erster Stelle.

Konkurrenz zwischen Flüchtlingen und Türken

Neben der Wirtschaftskrise ist der Zustrom an Flüchtlingen ein weiterer wichtiger Grund für die hohe Zahl an Odachlosen. Die meisten sind vor dem Krieg in Syrien geflohen. Dazu kommen aber auch zahlreiche Menschen aus Afghanistan, Pakistan und anderen Ländern. Laut einer Statistik von Amnesty International ist die Türkei das Land das weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Aktuell sind es rund 3,7 Millionen. Auch sie zieht es vor allem nach Istanbul.
Hilfsorganisationen sprechen von einer "Armutskonkurrenz" zwischen den Flüchtlingen und den Türken am unteren Ende der sozialen Leiter. Viele Flüchtlinge sind so verzweifelt, dass sie für Dumpinglöhne arbeiten. Dadurch haben es Türken mit geringer Schulbildung, vor allem aus dem ländlichen Anatolien schwerer, einen halbwegs ordentlich bezahlten Job zu finden. Die Wirtschaftskrise hat die Arbeitsmarktsituation zusätzlich verschärft. So hat Üner es bisher nicht geschafft, Arbeit zu finden, die zum Leben reicht.
"Ich habe sehr intensiv nach einem Job gesucht, aber da waren überall schon Usbeken oder Afghanen. Ja, nicht mal das kleinste Restaurant wollte mich als Spülhilfe einstellen. Sie suchen alle nach Flüchtlingen. Ich habe eine kleine Tochter und muss sie versorgen. Aber niemand gibt mir eine Chance."
Üners 13 Monate alte Tochter und seine Frau sind in Adıyaman geblieben. Seine Frau weiss nicht, dass er auf der Straße leben muss. Er schämt sich, das zuzugeben.
Er hat die Obdachlosen studiert - Mustafa Fazıl Karaman  in seiner "fahrenden Suppenküche Aşhane” vor der Hasan Paşa Moschee.
Er hat die Obdachlosen studiert - Mustafa Fazıl Karaman in seiner "fahrenden Suppenküche Aşhane” vor der Hasan Paşa Moschee.© Emre Çaylak
Eine der wenigen Studien zu Obdachlosen in der Türkei stammt von Mustafa Fazil Karaman. Der Mittzwanziger mit hellbraunem dichtem Bart und rundem sanftem Gesicht ist Doktorand an der Fakultät für Soziologie an der Sakarya Universität in Istanbul. Für seine Masterarbeit hat er 472 Obdachlose in der ganzen Stadt interviewt. Er sagt, dass es vor allem Armut ist, die Menschen auf die Straße bringt, weniger Alkohol, Drogen oder familiäre Probleme, wie in Westeuropa.
"Sie sind meist sehr ehrliche und gefühlvolle Menschen. Sie machen auf mich irgendwie einen poetischen, romantischen Eindruck. Ich glaube, wenn sie mehr Ego hätten oder eine Ellenbogenmentalität, dann würden sie nicht auf der Straße landen."

Es fehlt der soziale Kit

So sehr die türkische Gesellschaft auch politisch gespalten sein mag: Der soziale Kit in der Familie, unter langjährigen Freunden oder Nachbarn ist normalerweise sehr stark, auch über politische und soziale Unterschiede hinweg. Man achtet aufeinander. Bei den meisten Obdachlosen, mit denen Karaman gesprochen hat, falle auf, dass sie diese engen Bande nie hatten oder verloren haben.
"Im Prinzip haben wir alle unseren Kreis, eine Frau, Freunde, Verbündete. Wenn mir heute irgendwas passiert, zum Beispiel ein Erdbeben, ein Notfall oder ein Todesfall, dann habe ich immer Menschen, auf die ich mich verlassen kann. Das haben wir alle. Aber diesen Menschen fehlt dieser Halt."
Ein barfüßiger Mann verhüllt von einer Decke sitzt auf dem Bürgersteig neben einem Auto und streckt die rechte Hand aus.
Ein Obdachloser bittet um Geld - im Istanbuler Stadteil Fatih.© Emre Çaylak
Um den Obdachlosen zu helfen, haben Mustafa Fazil Karaman und sein Vater eine Suppenküche gestartet. Mit einem umgebauten Postwagen fahren sie jeden Abend mehrere Plätze in der ganzen Stadt an, wo besonders viele Obdachlose übernachten. Wohltätigkeit hat einen großen Stellenwert und eine lange Tradition in der Türkei. Sie vereint religiöse und nicht religiöse Türken, Regierungsanhänger wie Kritiker. Die Tradition geht auf die osmanische Zeit zurück.
Damals gehörte es zur Pflicht jedes Bürgers, der es sich leisten konnte, etwas für die Bedürftigen zu tun. Auch damals gab es schon Armenspeisungen, organisiert von Moscheen oder mildtätigen Organisationen. Diese hießen Aşhane und genauso hat Karaman seine Suppenküche genannt. Karaman, der ein sehr religiöser Mensch ist, zitiert ein islamisches Sprichwort.
"Nach unserem Glauben, dem Islam heißt es: Es gibt niemanden unter uns, der satt da liegt, wenn sein Nachbar hungrig ist."

"Nirgendwo sonst bekomme ich etwas umsonst"

Die Tour beginnt bei der kleinen Hasan Paşa Moschee in Kadıköy. Sie liegt unscheinbar in einer Nebenstraße zwischen der Ausgehmeile des Szeneviertels auf der asiatischen Seite der Stadt und dem Stadion des Fußballclubs Fenerbahçe Istanbul. Auf einer Infotafel im Hof der Moschee ist angeschrieben, welche Lebensmittel für die nächste Tour benötigt werden, sodass die Gläubigen diese spenden können. Gekocht wird in der Moschee, und die erste Ausgabe findet dort statt. An diesem Tag gibt es Linsensuppe. Manchmal kommt auch Serkan Üner die etwa zwei Kilometer vom Yoğurtçu Park hierher, um etwas zu essen.
"Das ist der einzige Ort, wo ich kostenlos eine Suppe bekomme. Das sind die Aşhane-Leute. Nirgendwo sonst bekomme ich etwas umsonst."
Man sieht nur die Hände von Personen, die Plastikschüsseln mit etwas zu Essen halten. Sie stehen in einer Schlange.
Obdachlose bekommen eine warme Mahlzeit im Gezi-Park. © Emre Çaylak
Die meisten, die auf der Straße landen, müssen selbst klarkommen. Das Sozialamt gibt denen, die registriert sind, nur ein wenig Geld: 300 Lira alle drei Monate – keine 50 Euro. Das reicht gerademal für einen Tee und einen Sesamkringel am Tag.
Es gibt keine staatlichen Programme, die ihnen helfen würden, wieder Fuß zu fassen. Früher war Obdachlosigkeit kein so großes Problem und jetzt, angesichts der Wirtschaftskrise und der vielen Flüchtlinge, haben die Stadtverwaltungen kein Geld für solche Dinge. Es existieren nicht einmal Obdachlosenunterkünfte. Im Winter erfrieren immer wieder Obdachlose und die Öffentlichkeit nehme kaum Notiz, wenn einer stirbt, sagt Mustafa Fazil Karaman.
"Letzten Monat sind acht Menschen gestorben. Ich kannte vier von ihnen persönlich, von den anderen vier hörte ich von anderen Obdachlosen, die ich kenne. So etwas wird in den Medien kaum berichtet. Vor einiger Zeit gab es mal ein paar Artikel. Das war vor fünf, sechs Monaten. Der Mann ist ertrunken. Aber das wurde nur berichtet, weil es mit Überschwemmungen zusammenhing, die die ganze Stadt betroffen haben. Vieles wurde von dem starken Regen zerstört."
Das geschah vergangenen August, als starke Regenfälle selbst den berühmten Basar im Zentrum der Stadt überfluteten. Der obdachlose Mann starb in einer Unterführung, in der das Wasser fast zwei Meter hoch anstieg.

Eine schwer zu ertragende Notunterkunft

Wenn die Temperaturen auf nahe Null Grad sinken, öffnet die Stadtverwaltung Istanbuls immerhin eine Notunterkunft in einem Außenbezirk. Busse sammeln die Obdachlosen an bestimmten Stellen der Stadt ein und bringen sie dorthin. Die Notunterkunft ist eine große Sporthalle, in der mehrere hundert Matratzen nebeneinander liegen. Es sieht aus wie bei einer Naturkatastrophe. Hier ist es zwar wenigstens warm und es gibt etwas zu essen. Aber weil so viele Menschen auf engem Raum zusammenleben, seien die Zustände schwer zu ertragen, sagt Mustafa Fazil Karaman. Er hat für eine Studie einmal eine Nacht in der Halle verbracht. Dabei erlebte er mit, wie einer der Männer einen epileptischen Anfall erlitt.
"Viele mögen da nicht hingehen. Die Situation dort ist sehr schlecht. Die Obdachlosen haben Streit untereinander. Die Jüngeren hacken auf den Älteren herum. Die Älteren haben oft gesundheitliche Probleme. Jemand, der eigentlich dringend medizinische Betreuung braucht, gehört da nicht hin."
Von der Perspektive eines große roten Teppichs aus  blickt man auf die Betenden in einer großen Moschee. Schwarzgekleidete Männer, die unter vielen hängenden Glühlampen vor dem Altar sitzen.
Früher ein Zufluchtsort für Obdachlose - das letzte Abendgebet in der Moschee in Fatih.© Emre Çaylak
Bis vor einiger Zeit konnten Obdachlose noch in Moscheen Unterschlupf finden. Die Tradition, dass diese jedem offen stehen, stammt auch noch osmanischer Zeit. Damals hatten Moscheen Tag und Nacht geöffnet und Reisende übernachteten dort. Als mit dem Syrienkrieg mehr und mehr Flüchtlinge in die Türkei kamen, besann man sich zurück auf diese Tradition und ließ sie in den Moscheen schlafen. Aber als es immer mehr wurden, begannen die Gläubigen, die zum Gebet kamen, sich zu beschweren, weil viele der Menschen abgerissen und dreckig aussahen und die Moscheegänger mancherorts auch um Almosen anbettelten. Bis auf ganz wenige Ausnahmen schließen alle Moscheen nun nach dem letzten Gebet am frühen Abend. Mustafa Fazil Karaman findet das nicht in Ordnung.
"Moscheen sind Gotteshäuser, da sollte es keine Beschränkungen geben. Sie sind Gottes Haus. Das ist eine ganz einfache Logik. Deshalb ist es unverständlich, dass eine Moschee für die Menschen geschlossen wird. Das führt das ganze Prinzip ad absurdum."

Der Held aus den Serien geht nach Istanbul

Obdachlosenunterkünfte, wo die Menschen längere Zeit bleiben können, gibt es nur ganz wenige. Sie werden alle von sozialen nicht staatlichen Organisationen oder Privatleuten geführt. In ganz Istanbul gibt es nur ein paar hundert Plätze für all die tausenden Bedürftigen. Der 59-Jährige Salih Yılmaz hatte Glück und hat einen solche Platz bekommen. Auch ihm sieht man nicht an, dass er obdachlos ist. Der kleine schmächtige Mann mit dickem Schnauzbart und einem Gewissen Schalk in den Augen kam ebenso wie Serkan Üner aus einer armen ländlichen Region nach Istanbul, jedoch bereits Anfang der Neunziger. Er zog seine Inspiration aus türkischen Filmen und Serien, die in der Zeit eine Blüte erlebten.
"Wir haben die Filme als Vorbild genommen. Da sieht man: Der Held geht nach Istanbul, er wird erfolgreich, berühmt und heiratet am Ende die Frau, die er liebt, blabla. Also, warum nicht dahingehen und auf den Putz hauen. Ich war ja auch ganz gut aussehend. So dachte ich damals. Aber ich habe gelernt, dass alle mit einem Traum nach Istanbul kommen und dann in einem Albtraum wieder aufwachen."
Ein Mann mit dunkler Jacke, Käppi und Schnauzbart steht zwischen den Straßenbahnschienen in einer belebten Fußgängerzone.
Der Traum von Istanbul, der zum Alptraum wurde - Salih Yılmaz mitten in der Fußgängerzone der Istiklal Staße.© Emre Çaylak
Lange Zeit lief es gut für Yılmaz. Er entwickelte sich zu einem ziemlich schillernden Typen, ergatterte sogar ein paar kleine Rollen beim Film. Die ersten zehn Jahre arbeitete er als Türsteher und Fahrer für einen sogenannten "Pavyon", einer Art Go-Go-Bar, wo Männer sich in Gesellschaft von Unterhaltungsdamen zum Trinken trafen. Doch dann geriet er in zwielichte Kreise, begann viel Alkohol zu trinken und ein ausschweifendes Leben zu führen, mit vielen durchzechten Nächten. Wenn er heute zurückblickt, bereut er viele Entscheidungen.
"Ich bin mit großen Hoffnungen nach Istanbul gekommen. Habe ich das bereut? Ja, das habe ich. Ich hab viele unterschiedliche Jobs gemacht, in Spielhallen gearbeitet, als Einparkhelfer, ich habe Sesamkringel verkauft. Ich hab auch illegale Dinge gemacht, aber ich hab ganz gut verdient. Ich bin immer irgendwie an Geld gekommen. Ich habe soviel Geld verdient, dass mich fast jeder in Istanbul kannte. Aber irgendwann war alles weg."

Eine türkische Hilfsorganisation als Rettung

Eines morgens wachte Yılmaz auf und konnte sich nicht mehr bewegen. Ein Schlaganfall. Der hinterließ nach langwieriger Behandlung bleibende Schäden: Er konnte nicht mehr arbeiten, die angeblichen Freunde waren auch verschwunden. So landete er schließlich auf der Straße und dann in einem Heim. Es wird von der türkischen Hilfsorganisation Şefkat Der unterhalten. Der Name bedeutet Stiftung für Mitgefühl. Yılmaz lebt hier in einem winzigen Zimmer mit sechs Doppelstockbetten, die in die Wand gebaut sind. Nicht viel Platz, von Privatsphäre ganz zu schweigen, doch Yılmaz ist dankbar für die Hilfe.
"Gott segne diesen Ort und dass wir diese Leute um uns haben, die uns helfen. Das ist ein zweites Leben für mich."
Zwölf Menschen jeden Alters und Geschlechts in orangenen Warnwesten posieren vor einer Hecke und hinter einem großen Stein bei Nacht.
Springt in die Lücke, die der Staat offen lässt: Das Şefkat-Team im Gezi-Park finanziert sich allein aus Spenden.© Emre Çaylak
Şefkat Der war die erste Organisation, die 1996 ein Obdachlosenheim für Männer eröffnete. Davor gab es nur ein staatliches Frauenhaus. Şefkat Der unterhält heute neun Gebäude über Istanbul verteilt und sieben weitere in der Stadt Konya im Zentrum der Türkei, wo die Organisation ihren Ursprung hat. Insgesamt 600 bis 700 Menschen finden bei Şefkat Der Platz. Die meisten sind Türken, aber es sind auch einige Ausländer darunter, meist Flüchtlinge oder gestrandete Migranten auf dem Weg nach Westeuropa. Eines der Häuser ist für Frauen in Notlagen reserviert. Die allermeisten Obdachlosen sind jedoch Männer. Für Frauen gibt es sehr viel mehr Hilfsangebote, staatliche und nicht staatliche.

"Die Sozialämter rufen bei uns an"

Eda Ayyıldız, eine Mitte-50-Jährige mit leuchtend grünen Augen, einem schwarzen Schlapphut und einem dicken schwarzen Mantel leitet das Haupthaus der Organisation in Istanbuls Shopping- und Ausgehviertel nahe des Taksim-Platzes.
"Sozialämter, Distrikt- und Stadtteilverwaltungen rufen uns an und schicken Menschen hierher, die eine Unterkunft brauchen. Wenn die Leute hierherkommen, versuchen wir, ihnen Papiere zu besorgen, oder wenn das möglich ist: Hilfsgelder."
Vier Personen, darunter eine Frau in Schwarz mit Hut, stehen in einem Supermarkt und wählen Produkte aus.
Arbeit mit Ehrenamtlichen: Eda Ayyildiz ( in schwarz) beim Einkaufen für die Obdachlosen vom Gezi-Park.© Emre Çaylak
Diese stehen zum Beispiel Menschen mit Behinderung zu, so wie Yılmaz. Auch wenn er nicht mehr richtig arbeiten kann, hilft er hier ein bisschen mit. Jeden Abend wird auch hier in einer kleinen Küche im Erdgeschoss des Haupthauses Essen gekocht. In zwei großen Kochtöpfen brutzeln Kichererbsen und Reis. Eda Ayyıldız schaut nach dem Rechten.
"Hier kochen wir und unsere Bewohner, also die, die nicht krank oder behindert sind, bringen das Essen auf Rollwagen zum Gezi-Park für die Obdachlosen dort."

Die Menschen wieder in die Gesellschaft eingliedern

Der Gezi-Park, Hauptschauplatz regierungskritischer Proteste von 2013, ist heute bevölkert von Obdachlosen. Şefkat Der arbeitet fast ausschließlich mit Ehrenamtlichen. Die Organisation finanziert sich allein aus Spenden. Auch Eda Ayyıldız bekommt kein Geld für ihre Arbeit dort. Sie ist bereits in Rente und zudem recht wohlhabend. Sie wünscht sich mehr Hilfe vom Staat für die Obdachlosen.
"Was uns fehlt ist, dass wir nicht wirklich mit dem Staat zusammenarbeiten können. Das wäre ja eigentlich logisch, dass der Staat uns anbietet, zum Beispiel unsere Miete und Nebenkosten zu übernehmen, aber das passiert nicht, obwohl wir eine Organisation sind, die den Menschen auf der Straße hilft. Letzten Monat hatten wir eine Stromrechnung von 3088 Lira, ungefähr 475 Euro. Man hat uns den Strom abgestellt. Am Ende haben unsere Ehrenamtlichen die Rechnung bezahlt. Man kann die Leute doch nicht draußen leben lassen, das sind Menschen. Manche haben gesundheitliche Probleme, manche brauchen eine Operation. Vor einiger Zeit haben wir 12.000 Lira für eine Operation bezahlt, rund 1850 Euro. Man denkt vielleicht, dass ist ja nicht so viel. Aber das läppert sich und wird manchmal sehr schwierig. Dass was wir uns am meisten wünschen, ist, dass der Staat Rehabilitationszentren schafft. Die Menschen brauchen das zuallererst. Sie müssen wieder eingegliedert werden in die Gesellschaft."
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