Panorama eines Lebens

29.08.2007
Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier hat nach zahlreichen Publikationen mit "Abendland" einen monumentalen 800-Seiten-Roman verfasst. Darin legt ein dandyhafter Herr von 95 Jahren, der als wahrer Weltbürger in Wien, Frankfurt, Lissabon, Moskau und New York gewesen ist, seine Lebensbeichte ab.
Michael Köhlmeier will es wissen. Nach drei Jahrzehnten, in denen sich der 1949 geborene Autor als Verfasser zahlreicher Romane und Prosabände sowie als höchst publikumswirksamer Nacherzähler der großen Mythen – von den antiken Sagen bis zur Bibel – einen Namen gemacht hat, legt er nun den großen Wurf als Epiker vor: "Abendland", ein monumentaler Roman von beinahe 800 eng bedruckten Seiten, in jeder Hinsicht eines der gewichtigsten Werke in diesem Bücherherbst und einer der Favoriten auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

Es ist ein Welt- und Jahrhundertpanorama, wie man es lange nicht gelesen hat. Ganz ohne postmoderne Verwirbelungskunst, vielmehr geschrieben in einem ruhigen, geduldigen, eleganten Erzählton. Carl Jacob Candoris legt seine Lebensbeichte ab, ein dandyhafter alter Herr von 95 Jahren, der als wahrer Weltbürger fast überall dabei gewesen ist, wo das 20. Jahrhundert notorisch wurde.

Der Roman spielt in Wien und Frankfurt, in Lissabon, Moskau und New York, in nordamerikanischen und afrikanischen Einöden, um nur einige Schauplätze zu nennen. Es gibt keine geradlinige, dramatisch zugespitzte Handlung, sondern ein Gewebe von Geschichten, das Köhlmeier mit hohem organisatorischen Kunstverstand geknüpft hat. Dabei geht es, ebenfalls in unvollständiger Aufzählung, um große Themen wie Krieg und Frieden, Jazz und Naturwissenschaft, Genie und Mäzenatentum, Kolonialismus und Naziverbrechen, sowjetische und nordamerikanische Geschichte. Es geht um den deutschen Terrorismus der siebziger Jahre, um Feinkosthandel und Liebe, um Männer und Frauen, die sich verfehlen und ihre Ehen ruinieren. Es geht um wiedergefundene Kinder und vor allem um: Väter und Ersatzväter.

Carl Jacob Candoris hat wenig zu tun mit den durchschnittlichen Helden der meisten heutigen Romane. Er ist vielfältig brillant, umfassend gebildet, ein Mann, der in jungen Jahren als studierter Mathematiker knifflige Grundlagenforschung in seinem Fach betrieb, dann aber als nicht minder cleverer Geschäftsmann das ererbte Vermögen seiner Familie vermehrte, um in den dreißiger Jahren als Agent gegen die Nazis zu arbeiten und später beim Manhattan-Atombombenprojekt unter Robert Oppenheimer mitzuwirken. Ein Stück verkörpertes Abendland ist dieser Candoris also, und wie den großspurig-vagen Titel des Romans könnte man die schiere Grandiosität der Figur als forciert empfinden.

Köhlmeier versteht es allerdings, Gegengewichte zu schaffen. Die Wucht der Candoris-Figur und der flankierenden Hochbegabungen wird gebrochen allein schon durch das bestechende Setting des Romans: Der alte Herr ist mittlerweile vom Tod gezeichnet und bei aller Erzählfreude und geistigen Wachheit leibhaftig nur noch ein Schatten seiner selbst.

Der Rollstuhlfahrer, der auf ständige Morphiumzufuhr angewiesen ist, diktiert seine Lebensgeschichte in das Aufnahmegerät seines Patenkindes Sebastian Lukasser. Dieser ist der Erzähler des Romans, ein selbst schon in die Jahre gekommener Schriftsteller, Sohn des genial verkrachten Gitarristen Georg Lukasser und in manchen Aspekten das Alter Ego des Schriftstellers Michael Köhlmeier. Außerdem laboriert Sebastian Lukasser gerade an den Folgen einer Prostatakrebs-Operation und quält sich mit Impotenzangst und Inkontinenz. Köhlmeiers peinlich genaue Beschreibungen sparen hier nichts aus. Der Umgang der beiden angeschlagenen Männer und Wahlverwandten wird zugleich mit Zartsinn und einer beeindruckenden Komik der Hinfälligkeit in Szene gesetzt.

Von der Zerbrechlichkeit des Lebens wissen aber auch die Binnengeschichten immer wieder zu berichten. Auch einem Götterliebling wie Carl Jacob Candoris ist das Scheitern gut vertraut. Das betrifft neben seiner eigenen Ehe mit der geliebten Portugiesin Margarida, die jahrelang von einem Nebenbuhler nicht lassen kann, vor allem seine zentrale Ambition als Mäzen und Mentor. Die strauchelnden Lukassers hat er unter seine Fittiche genommen. Aber er muss erleben, wie der Ausnahme-Gitarrist Georg nach einer fulminanten Karriere, die ihn von der Wiener Schrammelszene unter die internationalen Jazz-Größen der fünfziger und sechziger Jahre führte, an Alkohol und wachsender Verschrobenheit zugrunde geht.

Er muss mit ansehen, wie sein Patenkind und Herzenssohn – eben der Erzähler Sebastian Lukasser, dessen Lebensgeschichte den zweiten Hauptstrang des Romans bildet – seine Ehe ruiniert und sein Kind David im Stich lässt. Candoris erscheint unerschüttert bis zuletzt, und doch hat er es hautnah immer wieder mit Verzweiflung, Wahnsinn, Leid und Trauer zu tun gehabt. Im übrigen erweist sich der "Schutzengel" selbst durchaus als Mann mit einer verborgenen mephistophelischen Seite.

Die Fülle dieses Romans, der sich den Anschein authentischen biographischen Erzählens gibt, kann nur angedeutet werden. Es ist sehr viel Bildungsgut und recherchiertes Material in ihn eingegangen; manches mag man zunächst als Ballast empfinden, sollte aber nicht vergessen, dass ein großer Kahn Gewicht braucht, um gut im Wasser zu liegen. Und man kann sicher sein, dass auf Abschnitte, die mit geradezu Stifterscher Ruhe handlungsarm dahingleiten, regelmäßig wieder Passagen folgen, in denen für Spannung und packendes Geschehen gesorgt ist. Man hat Freude an der musikalisch-komplexen Struktur von "Abendland", an der Geschichts- und Geschichtenfülle. Am meisten aber imponieren die sprachliche Kraft und die Beschreibungskunst Köhlmeiers, der epische Atem, der den Erzähler und mit ihm den faszinierten Leser durch dieses große Buch trägt.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Michael Köhlmeier
Abendland. Roman.

Carl Hanser Verlag,
780 S., 24,90 Euro