Pandemieplanung

Lehren aus der Wirklichkeit

07:32 Minuten
Ein gelber Pfeil auf dem Boden eines Impfzentrums weist Menschen in die richtige Richtung.
Die Bekämpfung einer Pandemie verlangt das Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, erklärt die Public-Health-Expertin Petra Dickmann. © picture alliance / dpa / Christophe Gateau
Von Dagmar Röhrlich · 02.08.2021
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Erkrankte versorgen, Sterblichkeit reduzieren, Informationen liefern: Zwischen den Zielen in Pandemieplänen und ihrer praktischen Umsetzung klafft eine gewaltige Lücke, die geschlossen werden muss – denn Covid-19 wird nicht die letzte Pandemie sein.
Die erste Warnung lief am 30. Dezember 2019 ein: In der chinesischen Millionenstadt Wuhan war eine atypische Lungenentzündung aufgetreten. Die Krankheit verbreitete sich schnell. Schon am 10. Januar 2020 veröffentlichen chinesische Wissenschaftler den genetischen Code des Virus. Am 11. März erklärte WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus Covid-19 zur Pandemie.
Es war bereits das dritte Mal im 21. Jahrhundert, dass die WHO eine Pandemie ausrief. SARS war der erste Warnschuss. Ausgelöst durch ein bis dato unbekanntes Coronavirus, das in Südchina von Tieren auf den Menschen übergesprungen war. Weltweit infizierten sich zwar nur knapp 8500 Menschen, doch mehr als 770 starben.

SARS veränderte internationale Gesundheitsvorschriften

"Bei SARS hat man wirklich das erste Mal auch gesehen, was es bedeutet, wenn ein Erreger in kurzer Zeit in der Lage ist, um die Welt zu reisen", sagt René Gottschalk. "Es hat drei Tage gedauert, da war die gesamte nördliche Halbkugel mit SARS-Patienten versehen."
René Gottschalk war bis Anfang Juni Leiter des Gesundheitsamts Frankfurt am Main. Durch SARS überarbeitete die WHO ihre internationalen Gesundheitsvorschriften. Bezogen sie sich zuvor auf Krankheiten wie Cholera oder Gelbfieber, ging nun die Globalisierung ein: Die Vorschriften verpflichten unter anderem alle Länder, einen Ausbruch zu melden.
Eine Lehre aus der Tatsache, dass die chinesischen Behörden versucht hatten, den Ausbruch zu verheimlichen.

Wirtschaftliche Schäden gering halten

"Insgesamt ist die ganze WHO-Pandemieplanung, vor allem die Pandemieplanung für die Grippepandemie, darauf aus, dass die wirtschaftlichen Schäden so gering wie möglich zu halten sind", erklärt er.
Denn vor SARS konnte sich niemand vorstellen, welche Schäden ein einzelnes Virus in einer eng vernetzten Welt selbst in hoch entwickelten Ländern anrichtet. Während die Pandemie hierzulande vor allem als Medienereignis wahrgenommen wurde, traf sie die Menschen in Asien hart. Busse und Bahnen fuhren nicht, Kindergärten, Schulen und Geschäfte schlossen, ebenso Restaurants und Betriebe.
Bei Covid-19 sollten dann Milliarden Menschen rund um die Erde diese Erfahrung machen. Einreiseverbote, Lock-down, Kontaktbeschränkungen – die Auswirkungen auf die Gesellschaften waren und sind enorm.

Politik sucht Orientierung bei der Wissenschaft

Die Bekämpfung einer Pandemie verlangt das Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, erklärt die Public-Health-Expertin Petra Dickmann.
"Es ist natürlich für politische Entscheidungsträger eine ungeheuer schwierige Situation. Sie sind vor eine Situation gestellt, die noch keiner so erlebt hat. Sie haben Verantwortung für große Entscheidungen, wo es im Grunde keine wirklichen Lektionen gibt, die man lernen kann", erklärt sie.
"Ich habe dann erlebt, und es hat mich unglaublich gefreut, dass tatsächlich die Wissenschaft angerufen wurde für Orientierung."
Doch funktioniert Politik nach anderen Regeln als Wissenschaft, so braucht letztere Zeit: Um Evidenz zu erhalten, müssen die entsprechenden Daten erst einmal vorliegen. Doch mit diesen neuen Daten können sich die Bewertungen verändern.

Kommunikation mit Mängeln

"Wir haben immer so ein bisschen im Kommunikationstunnel gestanden, wo so die Ergebnisse von Beratung sozusagen rauskommuniziert wurden, und man hat sich immer bemüht, dass man möglichst rational die wissenschaftliche Expertise dargestellt hat", sagt Petra Dickmann.
"Aber diese Meta-Ebene, die Frage warum werden Entscheidungen jetzt so getroffen? Wer wurde befragt? Was ist jetzt wichtig? Was sind die Parameter: Der Kommunikationsstrang fehlt, und der fehlt seit Beginn der Pandemie."
Die Probleme, zu denen das führt, werden jetzt erneut in der vierten Welle deutlich.
René Gottschalk erklärt: "Am Anfang war es absolut sinnvoll, die sogenannte Eindämmungsstrategie zu fahren, um den Verlauf einer Pandemie möglichst zu verlangsamen. Aber am Anfang einer Pandemie muss man eine andere Strategie fahren als in der Mitte einer Pandemie oder am Ende einer Pandemie."

Die Lage ändert sich von Welle zu Welle

Nun geht es unter den durch die Impfung veränderten Bedingungen um die Frage, ob die Maßnahmen der ersten Welle noch angemessen sind. Dabei spielt bei den Entscheidungen über Maßnahmen und den Kommunikationsproblemen im Dreieck Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit der Mangel an belastbaren Daten eine zentrale Rolle.
"Da hat man zum Beispiel versäumt, bei einem positiven Testergebnis den Beruf mit zu erfassen. Dann hätte man bei vielen Stellen genauer gewusst, wie viele Lehrer eigentlich infiziert sind, und andere Berufsgruppen", kritisiert Gerd Antes. "Friseure wurden da wieder aufgemacht, dann war das immer eine Diskussion. Alle diese Zusatzangaben hat man konsequent nicht miterfasst. Das war ein fataler Fehler, der bis heute fortbesteht."
Man habe sinnvolle Beobachtungen nicht gemacht, urteilt Gerd Antes. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Cochrane-Deutschland-Stiftung. So fehlen Daten, ob die Plastikabtrennungen Busfahrer oder Kassiererinnen vor Infektionen schützen oder wie Präsenzunterricht auf das Infektionsgeschehen auswirkt.

Woher kommen die Versäumnisse?

"Das ist einfach eine Mischung aus politischem Unwillen, Lethargie. Und am dramatischsten ist es tatsächlich bei den Therapiestudien", sagt Gerd Antes. "Deutschland ist nirgendwo hochwertig dabei, bei der Untersuchung von vorgeschlagenen Therapien. Aber es ist nur ein Beispiel dafür, dass wir an keiner Stelle sozusagen wissenschaftsorientiert versuchen, der Lösung näher zu kommen."
Dabei müssen die Gesundheitsämter mit stark ausgedünntem Fachpersonal hochklassige Arbeit leisten – und unter anderem den Ansteckungswegen folgen. Doch schon die Gesetzeslage sorgt für Reibungsverluste.
"Dass wir mit Fax arbeiten oder arbeiteten, größtenteils, stimmt, weil das der Gesetzgeber uns vorschreibt", sagt René Gottschalk. "Nicht die Gesundheitsämter sind die altmodischen, sondern der Gesetzgeber, der nämlich sagt: Das Fax ist das einzig sichere Kommunikationsmittel, was den Datenschutz angeht."
Im 21. Jahrhundert ein Anachronismus – der umso schwerer wiegt, als auch das Fax die Daten digital übermittelt.
"Es ist eine ernst zu nehmende Erkrankung, es ist für bestimmte Bevölkerungsgruppen eine sehr ernst zu nehmende Erkrankung, und sie muss entsprechend mit den Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitsdienstes auch bekämpft werden", fordert er.
Dass Datenerfassung und Kommunikation verbessert werden müssen, das sind nur zwei der Lehren, die jetzt zu ziehen sind. Denn eines ist klar: Wenn Covid-19 vorbei ist, kommt irgendwann die nächste Pandemie. Das ist keine Frage des "Ob", sondern nur des "Wann".
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