Pandemie als Chance

Ist die Politik bereit für einen tiefgreifenden Wandel?

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Ist die Zeit des Kopf-in-den-Sand-steckens bald vorbei?
Wird sich die Politik vom Diktat der Finanzmärkte verabschieden? Das fragt sich Christian Bergmann im Hinblick auf die Chance auf Veränderung durch die Pandemie. © imago images / Ikon Images / Oivind Hovland
Ein Kommentar von ​Christian Bergmann · 27.11.2020
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Die Pandemie birgt die Chance, unsere Art des Wirtschaftens und Zusammenlebens zu überdenken. So der Grundtenor im März. Die Parteien müssen nun entscheiden, ob sie trotzdem zum business as usual zurückkehren wollen, meint Politikwissenschaftler Christian Bergmann.
Als neulich die Nachricht des deutschen Biotechnologieunternehmens Biontech bekannt wurde, dass man die Zulassung für einen zu 90 Prozent wirksamen Covid-19-Impfstoff beantragt habe, kam es zu erstaunlichen Entwicklungen an den Börsen weltweit.
Der deutsche Dax etwa stieg so schnell an wie zu keinem Zeitpunkt zuvor in diesem Jahr. Fluggesellschaften verbuchten massive Zugewinne, wohingegen etwa das Softwareunternehmen Zoom massive Kursverluste erlitt.
Wie so oft dienten die Entwicklungen am Finanzmarkt als Stimmungsbarometer - zumindest für Anleger*innen. So sehr man es auch ablehnen mag, aus den Launen des globalen Finanzmarktes wirtschaftliche, geschweige denn gesellschaftspolitische Schlussfolgerungen zu ziehen, hat die Nachricht von Biontech doch zumindest durchblicken lassen, wie reflexhaft die Wirtschaftsbranche auf ein "Business-as-usual" - oder besser gesagt - ein "Business-as-before" hofft.

Pandemie als historisch einmalige Chance

Das nahezu gesamte Erliegen des öffentlichen Lebens im März mündete in einer Vielzahl von Artikeln, Kommentaren, Podcasts und anderer, welche die Zeit gekommen sahen, sich grundsätzlich Gedanken über unsere Art des Wirtschaftens und Zusammenlebens zu machen.
Der Grundtenor war, dass die Pandemie uns eine historisch einmalige Chance böte, grundlegende Veränderungen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben vorzunehmen. Die Feuilletons und Podcasts überboten sich mit den utopischsten beziehungsweise dystopischsten Post-Covid-Gesellschaftsfantasien.
Viele dieser Einwürfe zogen die häufig in diesem Zusammenhang herangezogene Metapher des Brennglases heran, mit der die Pandemie gesellschaftliche Missstände klar zum Vorschein treten lässt. Hier ließ sich, der vorwiegend westlichen Perspektive dieser Szenarien einmal ungeachtet, ein enormer Veränderungswille in der Gesellschaft wahrnehmen.

Was bedeutet die Krise für die Bundestagswahl?

Die Frage, die ich mir im Laufe des Jahres jedoch immer mehr stellte, war, welche dieser grundlegenden Vorschläge von den Parteien im kommenden Jahr bei der Bundestagswahl wohl Berücksichtigung finden würden?
Sollte man doch meinen, dass etwa die Debatte um die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens nach Milliarden an staatlichen Hilfsgeldern und Kurzarbeit in der Coronakrise massiven Aufwind erhalten müsste.
Genauso sollte jedoch auch keine Partei am Thema der konkreten Bekämpfung der Klimakrise vorbei können. Der Grünen Ko-Vorsitzende Robert Habeck schrieb diesen Sommer, dass dieses Coronajahr unseren Alltag verändert und ein Schlaglicht auf die Verletzbarkeit der Gesellschaft geworfen habe.

Gespannt auf die Wahlprogramme

Es sei ein Jahr, in dem die Erkenntnis wachsen müsse, dass Krisen schlimmer werden, wenn man immer nur aus der Situation heraus handele und lediglich auf Sicht fahre. Daraus leitet er ab, dass die eigentliche, große politische Aufgabe die der Vorausschau und der Vorsorge sein müsse.
Die Parteien müssen sich kurz vor der Bundestagswahl entscheiden: Will man sich ein weiteres Mal dem Diktat der Finanzmärkte beugen und eine vermeintlich sichere business-as-usual-Strategie fahren, oder versucht man die neuen Ideen und gesellschaftlichen Utopien mit in die Wahlprogramme aufzunehmen, um einen wirklich tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Wandel einzuleiten?
Angela Merkel wird im kommenden Jahr als Bundeskanzlerin abtreten. Damit geht eine politische Ära zu Ende. Sehen wir dies doch als einzigartige Gelegenheit, die Art und Weise wie wir Politik in diesem Land bisher gestaltet haben, grundlegend zu hinterfragen und neu auszurichten auf das, was da alles noch kommen mag.

Christian Bergmann ist Politikwissenschaftler, Publizist und Kurator. Zuletzt war er als Projektmanager an einem Berliner Think Tank tätig. Zwischen 2018 und 2020 war er der Politische Direktor und Co-Geschäftsführer der Suchmaschine für politische Publikationen Paul Open Search. Im Sommer 2015 hat er in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) in Berlin die Ausstellung "77-13 - Politische Kunst im Widerstand in der Türkei" initiiert und kuratiert.

Porträt von Christian Bergmann
© Anja Ligaya Weiss
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