Outtakes (4)

Maria

Eine Bettlerin streckt Passanten auf der Straße ihre Hand entgegen.
Früher hat Maria die Obdachlosenzeitung verkauft, inzwischen verzichtet sie auf diesen Vorwand © picture-alliance/ dpa - Arne Dedert
Von Sarah Nemitz und Lutz Hübner · 16.04.2015
Outtakes (4) ist ein Gastbeitrag der Schauspielerin Sarah Nemnitz. Sie ist Lutz Hübners Ehefrau, seine Stücke schreibt er immer mit ihr zusammen. Die Notizen über die Rumänin Maria, die sie in Berlin Kreuzberg beobachtet hat, wurden zu einem Originalton.
Vor dem Bioladen in meiner Straße sitzt Maria. Sie heißt wirklich so. Rundliches, offenes Gesicht, hellbraune Haut, dunkelbraune Augen und breite, bäuerlich wirkende Hände. Sie sitzt auf einem bodennahen Höckerchen, eingehüllt in abgetragene Kleidung. Sie wird um die vierzig Jahre alt sein.
Früher hat sie den "Straßenfeger" verkauft, inzwischen verzichtet sie auf diesen Vorwand. Sie sitzt etwas abseits des Eingangs. Wenn man sie ignorieren will, kann man das ohne Weiteres tun. Sie spricht niemanden an, sie sitzt einfach nur da, in Gedanken versunken oder die Passanten beobachtend. Immer wieder bleibt jemand stehen um mit ihr zu reden und ihr ein paar Münzen zu geben, manchmal stehen Plastiktüten mit gebrauchter Kleidung neben ihr, manchmal passt sie auf die Einkäufe gestresster Mitbürger auf, die noch etwas vergessen haben und nicht alles mitschleppen wollen. Es ist offensichtlich, dass die Menschen ihr vertrauen und versuchen, sie zu unterstützen.
Fünf Kinder und ein herzkranker Mann
Manchmal reden wir ein bisschen miteinander. Folgendes habe ich auf diese Weise über sie erfahren: Sie kommt aus Rumänien, hat fünf Kinder im Alter zwischen 6 und 14 Jahren, vier Jungen, die beiden Ältesten sind Zwillinge, das jüngste Kind ist ein Mädchen. Sie hat einen Mann, der herzkrank ist. Die Familie lebt in Rumänien.
Was sie über mich erfahren hat: Ich habe eine 17-jährige Tochter, die gegenüber zur Schule geht, einen Mann, einen Beruf, unter dem sie sich nicht so recht etwas vorstellen kann und wir leben alle zusammen in Kreuzberg.
Ich schleppe nahezu täglich große Tüten aus dem Biomarkt, prall gefüllt mit Essen für meine kleine Familie. Ich kenne die Verhältnisse in Rumänien nicht genau, vermute aber, dass ihre Familie mindestens einen Monat von dem leben könnte, was ich für meine Familie in einer Woche ausgebe.
Eines Nachmittags sehe ich schon von weitem, dass sie traurig ist. Auf Nachfrage erzählt sie mir, dass ihr der hohe Preis für die Medikamente, die ihr chronisch kranker Mann benötigt, zu schaffen macht. Am nächsten Tag stecke ich ihr verschämt 50 Euro zu, sie ist fast erschrocken, bedankt sich sehr. Einige Wochen später ist sie wieder sehr bedrückt, wieder geht es um die Medikamente ihres Mannes. Sie will kein Geld, zeigt mir aber die leere Medikamentenschachtel, 200 Euro kostet eine Packung. Sie fragt, ob das normal sei, ob es das Medikament vielleicht irgendwo billiger gäbe.
In mir geht ein Warnlicht an
Ich bin nicht nur in einer intensiven Arbeitsphase, sondern auch mit anderen Aufgaben sehr belastet und am Rand meiner Kapazität. Ich habe keine Ahnung von Medikamenten, muss mich selbst erkundigen, Zeit und Aufmerksamkeit investieren, die ich eigentlich nicht habe. Ich werde es trotzdem versuchen, so groß kann der Aufwand ja nicht sein, aber in mir geht ein Warnlicht an, weiter darf ich mich nicht in dieses Leben mischen, ich schaffe das nicht, manchmal schaffe ich ja kaum mein eigenes Leben.
Ab und zu treffe ich meine Tochter vor dem Bioladen, Maria kennt sie vom Sehen. Irgendwann frage ich sie nach einem Foto ihrer Kinder. Sie schaut mich an, legt eine Hand auf ihre Herzgegend und sagt "Kein Foto, tut zu sehr weh." Sie sieht ihre Kinder zwei Mal im Jahr.

"Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart". Darin bitten wir Schriftsteller jeweils für eine Woche um einen kurzen Text, in dem sie kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen.

Lutz Hübner
wurde 1964 in Heilbronn geboren und wuchs in Weinsberg auf. Hübner studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie an der Universität Münster und absolvierte eine Schauspielerausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Saarbrücken.

Für besondere Verdienste um das Kinder- und Jugendtheater erhält der Dramatiker den ASSITEJ-Preis 2011 der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche (ASSITEJ) Deutschland.

Der INTHEGA-Sonderpreis des Vorstands wurde 2014 an Hübner verliehen. Die Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen e.V. (INTHEGA) verleiht ihre Preise in Karlsruhe.

© dpa / pa / Galuschka
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