Osteuropa-Historiker Karl Schlögel über DAU-Projekt

Der Popanz zerstört den Wert der Filme

Außenansicht des DAU Visa Center in Paris: Totalitarismus hautnah erleben.
Außenansicht des DAU Visa Center in Paris: Das künstlerische Großprojekt inszeniert totalitaristische Erfahrungen. © imago / Marius Schwarz
Karl Schlögel im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 29.01.2019
700 Stunden Filmmaterial existieren von dem Kunstprojekt DAU. Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel hat einen der 13 Filme gesehen und ist von dem Detailreichtum beeindruckt. Die gesamte Inszenierung sei aber zum großen Event aufgeblasen.
Sigrid Brinkmann: In einem ehemaligen Schwimmbad in der ukrainischen Stadt Charkiw hat der russische Regisseur Ilja Chrschanowski das Institut des 1968 gestorbenen Physikers Lew Landau nachgebaut und darin eine Parallelwelt geschaffen, die er filmte. Drei Jahre lang haben die Dreharbeiten für das Kunstprojekt "DAU" gedauert.
Es ist eine Mischung aus Kino, Kunstinstallation, Theater, Konzert und Vortragszyklen auf den Spuren des Physikers Landau. In Berlin scheiterten die Macher um Regisseur Chrschanowski an dem Plan, die Berliner Mauer temporär wieder aufzubauen, in Paris daran, zwei Theater über eine Brücke miteinander zu verbinden und die Katakomben unter dem Theater für das Publikum zugänglich zu machen.
Die französischen Kritiken waren verheerend. Über das Kernstück, 13 Filme und einige Serien, die aus dem Projekt mit 700 Stunden Filmmaterial hervorgegangen sind, erfährt man bislang so gut wie gar nichts, weshalb wir nun mit Karl Schlögel sprechen, der uns als Osteuropahistoriker und Buchautor tiefe Einblicke in die Kulturgeschichte des sowjetischen Jahrhunderts ermöglicht hat. Guten Abend, Herr Schlögel!
Karl Schlögel: Guten Abend!

Atmosphäre der "Stalinschen Säuberungen"

Brinkmann: Sie haben als einer von wenigen einen der 13 Filme des "DAU"-Projektes sehen können. Wie hat das Filmgeschehen auf Sie gewirkt?
Schlögel: Ich muss sagen, ich bin herausgegangen und war sehr beeindruckt von dem Film und habe mich gefragt, warum die Organisatoren nicht einfach die Filme zeigen und die ganze Aufmerksamkeit, die diese Filme verdienen, ernst nehmen.
Der Film hat mich beeindruckt, weil er auf eine sehr, sehr dichte Weise eine Atmosphäre reproduziert, wie man sie eigentlich aus den Augenzeugenberichten und Erinnerungen der 30er-Jahre während der "Stalinschen Säuberungen" kennt, und wir haben einige ausgezeichnete Zeugnisse von dem Institut in der Ukraine in Charkiw, etwa von Alexander Weißberg, ein Physiker, der auch in Deutschland bekannt ist.
Charkiw war damals ein Zufluchtsort für deutsche, österreichische Physiker, es war ein internationaler bedeutender Platz der Naturwissenschaften, und deswegen sind wir eigentlich ziemlich gut informiert darüber. Ich fand, dass der Film die Atmosphäre unglaublich gut und genau reproduziert hat durch die Enge der Räumlichkeiten, durch die Beengtheit, in der die Menschen dort aufeinandertreffen, Naturwissenschaftler und ihre Verwandten, ihre Familien, durch die sehr genauen Details.
Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel.
Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel findet, dass der Film die Atmosphäre der 30er-Jahre durch Details sehr gut reproduziert hat.© picture alliance / dpa / Arno Burgi
Für mich ist ein sehr wichtiges Kriterium für einen Film, ob die Details stimmen. Also da geht es dann um Dinge, wie sind die Wohnungen gestaltet, wie sieht dieses Gastmahl am Abend aus, wo sich die Physiker alle um den Tisch herum versammeln und sich unterhalten. Ich war sehr beeindruckt von der schauspielerischen Leistung, insbesondere dem, der Lew Landau spielt, der ja bekannt war als ein sarkastischer, spöttischer Freigeist, der nicht hinterm Berg gehalten hat mit seiner Meinung. Also ich bin von dem Film wirklich beeindruckt gewesen.

Strukturen der Diktatur

Brinkmann: Die Mitwirkenden des Films sollten ja über ihr monatelanges Zusammenleben in dieser Scheinwelt in die Strukturen einer Diktatur hineinwachsen, und sie haben auch danach gelebt. Das heißt, diejenigen, die die Regeln des Institutes nicht eingehalten haben, die wurden denunziert beim Regisseur und dann vom Museumswärter aus dem Institut geworfen, vielleicht angelehnt auch an die Verhaftung der Wissenschaftler, die nicht auf Parteilinie waren und die vom KGB abgeführt wurden und meist zu Haftstrafen oder auch zum Tod verurteilt wurden unter Stalin. Empfanden Sie, Herr Schlögel, die Grausamkeiten, die der Film zeigt, als angemessen in der Darstellung?
Nachbildung eines Schlafzimmers zur Zeit der Sowjetunion – und Teil des Kunstevents "Dau" in Paris.
Nachbildung eines Schlafzimmers zur Zeit der Sowjetunion – und Teil des Kunstevents "Dau" in Paris.© Sabine Glaubitz/dpa
Schlögel: Sie sind eher ganz subtil angedeutet, etwa durch diese Experimente mit den Mäusen. Der vorherrschende Grundton dieses Films, den ich gesehen habe, war sozusagen das gedämpfte Gespräch, dass die Leute in den Ecken zusammensitzen, sich unterhalten, eine Sprache sozusagen, wo man eher zwischen den Zeilen etwas versteht.
Wie die Filmemacher diesen Film gemacht haben, das weiß ich gar nicht. Das kann ich auch gar nicht beurteilen. Ich weiß auch gar nicht, ob diese Idee, sozusagen ein Menschenexperiment noch mal im Reenactment durchzuführen, ob das funktioniert. Ich kann nur das Ergebnis beurteilen, und diesen Film, den ich gesehen habe – und es gibt ja insgesamt 13 –, den fand ich eindrucksvoll.
Ich bleibe einfach dabei: Ich habe nie verstanden, warum dieser ganze Popanz drumherum gemacht worden ist. Und ich finde das sehr, sehr schade. Man hätte einfach die Filme zeigen sollen, die Leute hätten dort reingehen sollen. Und man muss in Berlin keine Mauer inszenieren – da gab es schon eine Berechtigung für den Protest in Berlin.
Brinkmann: Natürlich nicht.
Schlögel: Das braucht man nicht.
Brinkmann: Also was die Unprofessionalität der Macher eigentlich, die den Blick weglenkt von den bemerkenswerten Filmen, wie Sie finden.

"Instinktiver Abwehrreflex"

Schlögel: Ich weiß nicht, was der Grund dafür ist, ob es Selbstüberschätzung ist, ein Gesamtkunstwerk des 21. Jahrhunderts in die Welt zu setzen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es dem nicht gutgetan hat und dass es einen fast instinktiven Abwehrreflex erzeugt hat.
Und noch etwas will ich sagen: Ich bin ja mehrmals in Charkiw gewesen, und ich habe das Institut, das Gebäude auch angesehen. Da sind auch Plaketten angebracht. Man hätte doch etwas sagen sollen, worum es eigentlich geht in diesem 37., 38. Jahr. Lew Landau ist ja verhaftet worden. Er saß ein Jahr im Gefängnis. Man hat ihn verhört, man hat ihn als trotzkistischen Spion und Agenten sogar der Deutschen beschuldigt.
Er hat über diese Zeit nach seiner Freilassung eigentlich nie mehr gesprochen. Er ist vielleicht auch nur davongekommen, weil es einen Wechsel gegeben hat in der Leitung des NKBD. Yezhov wurde abgesetzt und stattdessen kam Beria, und andere aber in diesem Institut, sehr berühmte und bedeutende Physiker, sind umgekommen. Für die war ’37 zu Ende.

Mehr historischer Kontext täte gut

Man müsste vielleicht doch, wenn man diese Filme zeigt, einen Kontext aufzeigen. Ich meine nicht pädagogisch. Es lässt sich nicht einfach durch Atmosphäre und eine bestimmte Situation zeigen. Man müsste ein bisschen historischen Kontext zeigen. Und ich hätte es auch gut gefunden, wenn der Schauplatz dieser Geschichte, nämlich Charkiw, das man ja heute besuchen kann und das in der Ukraine eine sehr wichtige Stadt ist und ein international bedeutsamer Wissenschaftsort in den 30er-Jahren, wenn das ins Spiel gekommen wäre.
Es gab irgendwie die Tendenz, das sozusagen zu einem großen Event aufzublasen, was aber dem künstlerischen Ereignis Abbruch tut meiner Meinung nach. Ich bedaure das sehr.
Brinkmann: Warum das Gesamtkunstwerk "Dau" bislang scheiterte und welche Bedeutung die Filme für die Kulturgeschichte Europas haben könnten, darüber habe ich mit dem Osteuropahistoriker und Buchautor Karl Schlögel gesprochen. Herr Schlögel, vielen Dank für das Gespräch!
Schlögel: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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