Thüringer Landrat

Ein Leben für die Bürger seines Kreises

Werner Henning ist der erste frei gewählte DDR-Landrat, der immer noch im Amt ist.
Grenzturm bei Milz in Thüringen: Im Länderreport geht es um Werner Henning. Er ist der erste frei gewählte DDR-Landrat, der immer noch im Amt ist. © picture alliance / dpa / Foto: Martin Schutt
Von Henry Bernhard · 05.12.2014
Als Vorsitzender des Rates des Kreises Heiligenstadt ordnete Werner Henning Ende 1989 die Öffnung der Grenze an. Kurze Zeit später wird er zum Landrat von Heiligenstadt gewählt, dem heutigen Landkreis Eichsfeld - und das ist er bis heute. Einblicke in das Leben eines Vollzeit-Kommunalpolitikers.
"Ja, Südeichsfeld, mein Heimatort, Geismar, unterhalb des Hülfensberges, den sie dort oben … Ein paar Spitzen sehen sie noch. Der Hülfensberg – für uns Eichsfelder das wichtigste Nationalheiligtum, geht auf Bonifatius zurück in der christlichen Tradition und war auch weit davor germanische Kultstätte, also uraltes mystisches Zentrum. Vielleicht hat uns das hier im Süd-Eichsfeld, vielleicht auch mich, schon mit geprägt."
Werner Henning sitzt im Auto. Wie so oft. Um die 60.000 Kilometer fährt ihn sein Fahrer im Jahr. Werner Henning ist Landrat im Eichsfeldkreis. Und Landrat ist man sieben Tagen die Woche.
"Ich muss manchmal schon überlegen: Was haben wir heute für einen Wochentag? Weil: Der Unterschied ist im Prinzip nur, dass ich mir den Sonntagvormittag freihalte. Da bin ich Organist als Gemeinde-Kirchenorganist in meiner Heimatgemeinde. Ja, wenn ich nicht da bin, spielt die Orgel nicht, und da gibt es zuhaus Kritik – insofern passt beides zusammen. Ich kann mich auch ein bisschen hinter der Orgel verstecken, mache es auch gern und verspüre auch, dass es mein Platz im Dorf ist."
Henning passt in keine Schublade
Werner Henning wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen. Dass sein Büro in einem Schloss liegt, passt zu ihm. Auf seinem Schreibtisch steht kein Computer. Er sieht Politik als erzieherische Aufgabe. Und doch wehrt er sich dagegen, die Bürger zu bevormunden. Manche Menschen können mit ihm wenig anfangen, weil er sich so schwer einordnen lässt. Doch dass sein Kreis, der Eichsfeldkreis, wirtschaftlich gut dasteht, freut dann doch alle.
"Wir sind selbst zu 51 Prozent Eigentümer unseres Gasnetzes, welches wir nach der Wende aufgebaut haben, verfügen also um 800 km eigenes Gasnetz im Landkreis. Und dieser Gasbetrieb, der – Vertrieb und der eigene Netzbetrieb im Gas – der stabilisiert uns auf der Einnahmenseite."
Im konservativsten Zipfel Thüringens haben sie so einige Strukturen aus der DDR übernommen.
"Da unser Vorteil: Wir haben gewissermaßen die DDR-Strukturen nicht völlig aufgegeben. Das wurde über viele Jahre kritisiert. Mittlerweile hat sich diese Kritik doch in ein Kompliment verkehrt. Wir haben eben nach der Wende nicht alles privatisiert, was andernorts privatisiert worden ist und konnten im Umschwung der großen volkseigenen Wirtschaft auf Kommunalwirtschaft selbst große Anteile aus der volkseigenen Wirtschaft für die Kommune erwerben. Es war auch nicht alles schlecht! Dass staatliche Strukturen verantwortlich waren für Belange der Daseinsversorgung, für Energieversorgung, für Wasserver- und -entsorgung, halte ich nach wie vor für nicht schlecht."
Politiker seit 25 Jahren
"Herr Kellner, ich mach die Tür auf!"
Herr Kellner fährt ihn seit 25 Jahren. Und man siezt sich seit 25 Jahren. Keiner will mehr ohne den anderen arbeiten. Vor dem Auto ein solides zweistöckiges Haus, ein großer Garten mit viel Rasen. In der Garage steht ein kleiner Rasentraktor. Ein Männertraum. Henning präsentiert ihn stolz, er ist neu, unbenutzt. Halb bedauernd, halb belustigt erzählt Henning, dass er seiner Frau wenigstens das Rasenmähen abnehmen wollte, als einzige Arbeit an Haus und Hof. Doch als er vor ein paar Tagen nach Hause kam, war der Rasen gemäht – mit dem alten Rasenmäher. Der kleine Traktor wird wohl noch lange unbenutzt stehen.
Henning holt einen Tisch, Gartenstühle, wir sitzen in der Sonne. Ein Moment, den er so nicht oft erlebt. Denn seit Ende 1989 ist er Politiker.
"Ich war im Jahr 1989 Leiter der Materialwirtschaft der Eichsfelder Bekleidungswerke, erlebe in dieser Zeit, wie doch viele Leute, die bei uns gearbeitet haben, doch am anderen Tage nicht mehr zur Arbeit kamen, weil sie über Ungarn in den Westen gegangen waren, große Lethargie im Unternehmen. Dann Leipzig, Montagsdemonstrationen, die auch in Heiligenstadt dann Ende Oktober beginnen. Und eine junge Frau aus unserem Betrieb kam damals aufgeregt zu mir nach der ersten Demonstration, die ich nicht erlebt hatte, und meinte, ich müsse mich da unbedingt einbringen. Sie hatte Sorge, wie das Ganze dort weitergehen soll. Und ab der zweiten Demonstration war ich gewissermaßen einer der Hauptredner, als junger Mann damals."
Eitelkeit und Bescheidenheit gehen eine enge Verbindung ein bei Werner Hennig. 33 Jahre alt war er 1989, war studierter Deutsch- und Musiklehrer, hatte promoviert und das Theodor-Storm-Literatur-Museum in Heiligenstadt aufgebaut. Da er nicht Museumsdirektor werden konnte, weil er statt in der SED in der CDU war, ging er lieber in die volkseigene Produktion. Die Demonstranten spülten ihn aber schnell ins Heiligenstädter Schloss, damals Sitz des Rates des Kreises. Denn der alte Vorsitzende war abgetaucht.
"Ich glaub, ich hab …, wir haben damals gar nicht …, ich hab mich damals gar nicht gefragt, 'Braucht man Selbstvertrauen oder braucht man keines?' Das war keine bewusste eigene Entscheidung. Vielleicht bin ich da auch nur hineingeraten; vielleicht war es zunächst auch nur jugendlicher Leichtsinn und noch ein bisschen naseweise Schulweisheit, eben gerad die Promotion erst ein paar Jahre zuvor hinter sich gebracht. Und man ging auch ein bisschen als Oberlehrer mit in die Demonstrationen hinein, und dann war das halt die Quittung, dass man der Meinung war immerhin, 20-30.000 Leute auf dem Platz: 'Ja, Henning soll kandidieren!' Und vielleicht war es auch meine etwas naive Hoffnung, dass am Ende schon ein Gegenkandidat kommt, den es ursprünglich ja auch gab, aber am eigentlichen Wahlabend man mir mitgeteilt hat, dass es diesen Gegenkandidaten halt nicht mehr gibt. Und so ist man da hineingetaumelt und ist dann da auch nicht mehr herausgekommen."
Dezember 1989: Überraschende Wahl zum Vorsitzenden des Rates des Kreises in Heiligenstadt
Das Eichsfeld ist der vielleicht katholischste Landstrich in Deutschland. Als man 1933 schon überall für die NSDAP stimmte, wählte man im Eichsfeld noch Zentrum; als die SED Jugendweihe und Atheismus propagierte, feierte man im Eichsfeld weiter Erstkommunion und Firmung. Und als man die SED nicht mehr hofieren musste, gab es keinen Grund mehr, nicht CDU zu wählen.
"Letzten Endes, in Ermangelung eines Gegenkandidaten, wurde ich am 7. Dezember 1989 zum Vorsitzenden des Rates des Kreises in Heiligenstadt gewählt, glaubte damals, doch nur übergangsweise, bis alles wieder sich neu gefunden habe, stünde ich für dieses Amt zur Verfügung."
Gewählt wurde er, der CDU-Mann, von den Abgeordneten des alten Kreistages, Politmarionetten der DDR, deren jeweilige Partei, wie immer sie sich nannte, letztlich doch die SED war. Am Morgen nach der Wahl saß der in der Verwaltung völlig unerfahrene Werner Henning in seinem Büro im Rat des Kreises.
"Und dann raufe ich mir die Haare und sage mir so: 'Du hast schon vieles gemacht, aber was du gestern gemacht hast, das ist das Verrückteste!' Und dann geht eine halbe Stunde später die Tür auf, und der Chef der Grenztruppen der DDR steht in der Tür, ein Oberst, und sagt: 'Herr Vorsitzender' – Tags zuvor hätte er noch gesagt Genosse Vorsitzender! – ich melde, am gestrigen Abend gab es eine Lichter-Demonstration an den Grenzanlagen in Bischhagen. Die Menschen haben gefordert, sie wollen einen Fußgängerübergang haben. Was empfehlen sie? Oder was befehlen Sie?'"
Damals war die Mauer zwar schon gefallen und durchlässig. Aber es gab nur sehr wenige Übergänge.
"Und ich habe ihn in meiner Hilflosigkeit angeschaut und gesagt, 'Herr Oberst, wir machen auf!', und war dann völlig verunsichert, als ich dann so eine Stunde später mitbekam, dass die Arbeiten dort begannen, und dort wurde der Zaun aufgemacht."
Der bewegendste Moment: die Grenzöffnung
"Ich hab viele Dinge erlebt. Und wenn ich von allen Dingen, die ich erlebt habe, für das Wichtigste Erlebnis nehmen soll, was mich auch angespornt hat und wo ich … geheult habe, das war … Ich fang noch mal an! Nimm mal den Hund mit rein."
Hennings Frau bringt Kaffee und Salamibrote in den Garten. Der Hund kommt neugierig mit.
Frau Henning: "Komm, her, komm!"
Werner Henning: "Jetzt riecht er die Wurst."
Frau Henning: Komm, wir spielen Ball!"
Werner Henning: "Wir machen einfach weiter, vielleicht geht’s ja gut! Und am übernächsten Tag, am Sonntag, dem 10. Dezember, früh um 10 Uhr wurde dann diese Öffnung gewissermaßen auch etwas zelebriert. Dieser Zaun, der wurde geöffnet, das Tor, von Osten und von Westen. Und die Menschen kamen vom Osten in dieses Niemandsland und vom Westen in dieses Niemandsland. Und dort haben wir uns getroffen, Ost und West, und haben geheult wie die kleinen Kinder. Und hinterher gingen wir nach Bischhagen in die Kirche, und ich habe mich an die Orgel gesetzt und habe 'Lobet den Herrn' gespielt. Das war für mich der bewegendste Moment der gesamten Wende und war ein ungemeiner Impuls, weil dann in diesem Grenzgebiet sich rumsprach, 'Jeder kann, wenn er will einen Fußgängerübergang hinter seinem Dorf bekommen.' Und wir haben dann in den Wochen danach immer wieder Fußgängerübergänge geöffnet. Und ich habe immer verstört auf meine Telefone auf dem Schreibtisch geschaut: Wann klingelt denn nun mal das rote Telefon? Ein solches stand auch auf meinem Tisch! Es klingelte nicht mehr! Und erst im Nachgang spürte man, daß eigentlich in Wahrheit offenbar in Erfurt und in Berlin schon längst vieles zusammengebrochen war. Und es hat geklappt und es passierte nichts Böses!"
Es hätte auch eine andere Partei als die CDU sein können, meint er. Aber er sei nun mal christlich erzogen worden. Außerdem glaubten die Menschen im Eichsfeld eher an sich als an den Staat. Die soliden rausgeputzten Häuser in sauberen Dörfern im ganzen Eichsfeld scheinen ihm Recht zu geben.
"Mein Credo war eigentlich damals kein politisches. Sondern ich lebte damals noch sehr stark im Geiste meiner Dissertation, die sich mit geschichtsphilosophischen Fragen im Spätwerk Lessings beschäftigt hatte."
Gern gesehener Gast, sieben Tage die Woche unterwegs
"Ja, jetzt sind wir in Leinefelde! Heute feiern wir eben 60. Geburtstag der Geschäftsführerin, die gleichzeitig in den Ruhestand verabschiedet wird, und das Jubiläum ihres Unternehmens…Sehen sie: Man kennt sich hier. Es ist nicht kumpelhaft, aber es ist familiär!“
"Ach, Dr. Henning, schön, dass sie da sind!"
"Alles Gute zum Geburtstag für die Zukunft! Wie es weiter geht, müssen sie dann mal sehen …" "Dankeschön, Herr Dr. Henning, da freue ich mich!"
"Ich nehm so einen … Danke!"
Es gibt Sekt und Häppchen; einen Vortrag, drei Reden. Vier Kinder der städtischen Musikschule spielen. Werner Henning sitzt in der ersten Reihe. Nach einer guten halben Stunde schleicht er sich hinaus.
"Nein, es ist schon alles werthaltig und in Ordnung – es dauert nur manchmal ein bisschen lange."
Sieben Tage die Woche unterwegs. Seine Frau, seine Kinder haben ihn kaum gesehen in den vergangenen 25 Jahren.
"Ich weiß nicht, wie es meine Frau jetzt beantworten würde, aber ich beantworte es als unproblematisch. Es ist ja halt schon immer so gewesen! Und im Übrigen ist es auch nichts Neues: Unsere Eltern und Großeltern, die sind in anderer Weise die ganze Woche unterwegs gewesen, haben in Berlin auf Baustellen gearbeitet oder noch davor als Wanderarbeiter anderenorts. Ich glaube, wir leben sehr stark auch noch in dieser Erfahrung! Das ist nicht unbedingt der Untergang oder das große Drama!"
Henning schließt die Tür zur St. Ursula-Kirche seines Heimatdorfes auf. Die alte Treppe geht er mit der Sicherheit eines Menschen hoch, der hier schon viele hundert Male war. Er öffnet den Deckel der Orgel-Klaviatur und zieht sich die Schuhe aus – sie sind zu breit für die Pedale.
"Ich hab keinen Orgelunterricht gehabt. Ich hab mal vielleicht ganz passablen Klavierunterricht gehabt und spiele so …, so wie man dazu kommt, dass man in der Gemeinde aufgefordert wird … Ich glaube, da war ich 14 Jahre alt – in meiner Heimatgemeinde!"
Ständige Nähe zu den Bürgern
Vor der Kirche wartet schon Herr Kellner mit dem Auto. Die Sonntags-Termine warten.
"Wir fahren dann zum 100. Geburtstag oder Diamantene Hochzeiten, wo ich gratuliere, oder Hochzeiten, die darüber hinausgehen: Eiserne Hochzeit, auch Gnadenhochzeit, auch Kronjuwelenhochzeiten – also, Hochzeiten gibt es sehr viele, wo der Landrat auch hin muss! Eigentlich ist es belastend, weil es sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, andererseits ist das für mich der Raum, in dem ich auftanke. Das sind eben keine politischen Gespräche, sondern wir reden über all die Dinge, die eben auch das Leben hier ausmachen. Und von daher ist man richtig dran. Und wenn ich diese Nähe nicht hätte, könnte ich auch die Verwaltung im Amt nicht so betreibe, wie ich sie im Moment betreibe."
Nach ein paar Monaten als Vorsitzender des Rates des Kreises wählten die Eichsfelder Werner Henning zum Landrat – fünf Mal seitdem in Folge. Sein schlechtestes Ergebnis waren 70 Prozent, sonst lag er immer um die 75 Prozent. Das ist selbst für einen CDU-Kandidaten im erzkatholischen Eichsfeld üppig.
"Insofern muss man sich auch oft fragen, ob dieses Etikett überhaupt so richtig passt. Und gerade, wenn man dieses Dorf sich anschaut, wo wir durchfahren, Kalmerode, schauen sie mal! Wir kommen jetzt an ein paar Plakaten vorbei, wo man spürt, dass hier mit der CDU auch allerhand im Argen liegt!“
Die Leute leiden unter dem Durchgangsverkehr, fordern eine Umgehungsstraße. "CDU-Verkehrspolitik – Wohn-Gulag Kalmerode – Vorsätzliche Körperverletzung durch Lärm, Feinstaub und Abgase!" steht auf einer Tafel. Auf einer anderen: "CDU – Clan der Unchristlichen"
"Hier steht Gerechtigkeit (durchgestrichen), Gleichheit (durchgestrichen), Wahrheit (durchgestrichen), Danke, liebe CDU! Man hadert mit der CDU als Partei, und trotzdem hat dieses Dorf genauso CDU gewählt bei der letzten Wahl, wie alle anderen Dörfer auch. Es gibt keinen Unterschied im Wahlverhalten. Aber es repräsentiert auch die Not der Leute!"
Er wundert sich immer wieder, dass die Katholiken aus Prinzip CDU wählen, meint, das könnte auch ein Missverständnis sein.
"Zugestanden: Die Partei der CDU profitiert aktuell aus diesem Lebensverständnis ungemein; ob sie das noch zu Recht tut, das muss jeder für sich selber entscheiden. Vielleicht ist es auch heute schon eine totale Überbewertung der Partei der CDU; aber hier ist eben noch ein sehr großes Treuebekenntnis gegenüber den alteingeübten Formen da, und genau darin liegt die Gefahr auch für die CDU als Partei, dass sie dieses Vertrauen als Format auch rechtfertigen muss. Und wenn der Abstand größer wird, dann bricht es irgendwann."
Henning widerspricht seinen CDU-Parteikollegen
Henning ist kein Parteisoldat. Mit der Erfurter CDU-Spitze legt er sich gern an. Als man laut darüber nachdachte, den Eichsfeldkreis aufzulösen, drohte Henning mit der Abwanderung des Kreises nach Niedersachsen. Als der Innenminister auf einer Veranstaltung verkündete, alles Gute habe die CDU gemacht, widersprach Henning und sagte, sie hätten es schon gut gemacht, aber das Etikett CDU hätte man später drauf geklebt. Und auch, wenn überall CDU dransteht, hätten sich doch viele geistig kaum weiter bewegt.
"Und das ist heute oft mein Kritikpunkt, dass ich spüre, dass wir auch heute noch lange nicht aus der DDR heraus sind. Und manchmal sage ich auch auf der Landesebene etwas ketzerisch – nicht bösartig! 'Nun, ich kenne vieles von dem, was ich hier erlebe; früher hätte ich das bei der SED-Bezirksleitung erlebt!' Dann guckt man sehr verstört und sagt: 'Wie kann man so etwas sagen?'"
Wir sitzen wieder im Garten. Der Fahrer, Herr Kellner, hat jetzt Feierabend und Werner Henning, Landrat seit 25 Jahren, wird philosophisch. Er redet von seiner Dissertation über Lessings Spätwerk, über das Positive am Ketzertum und über die Freiheit. Freiheit heißt für den strengen Katholiken, sich im gegebenen Rahmen zu bewegen und doch nicht untertan zu machen. Auch nicht der Kirche.
"Als, ein Satz, der mir immer auch heute noch präsent ist, bei Lessing in seiner Duplik, der da heißt: 'Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, und spräche zu mir, Wähle!, ich fiele ihm mit Demut in seine Linke.' Denn der Besitz der Wahrheit gehört nur Gott allein. Allein der Trieb nach Wahrheit macht den Wert des Menschen. 'Der Besitz macht ruhig, träge und stolz.' Ich glaube, es ist nur das Bemühen; Identität und Heimat ist ein Teil von Wahrheit, die ich nur erreichen kann, wenn ich mich darum bemühe. Wir reden natürlich nicht beim Sportfest über solche Kategorien oder wenn man zu einem Jubiläum geht, und dennoch ist es die Art, wie man miteinander redet! Dieses Reden ist das Bemühen – und das ist spannend! Und ich glaube, dieses Bemühen ist am Ende auch produktiv."