Ort des Verbrechens

02.12.2010
Poggialis Erstlingswerk hat die Schattenseiten des gleißend schönen und zugleich gewalttätigen Neapel zum Gegenstand. Wie brutal sich die Camorra des Einzelnen bemächtigt und keinen Raum für Pläne jenseits der verbrecherischen Strukturen lässt, wird in dem Roman packend vermittelt.
Neapel ist seit jeher ein hoch literarisches Terrain, auch Ort des Verbrechens, aber erst Roberto Saviano machte die einst so glanzvolle Mittelmeermetropole mit seinem dokumentarischen Roman über die Camorra (Gomorrha, 2006) endgültig zum Brennpunkt der organisierten Kriminalität. Seither sind eine ganze Reihe neuer Autoren auf den Plan getreten, die von Verwicklungen ihrer Figuren mit eben jener organisierten Kriminalität erzählen.

Auch Simonetta Poggialis spätes Debüt "Der Götterbote", vor zwei Jahren im Original erschienen und von der italienischen Kritik sehr gelobt, hat die Schattenseiten der gleißend schönen und zugleich gewalttätigen Stadt zum Gegenstand. Wie brutal sich die Camorra des Einzelnen bemächtigt, ganze Wohnviertel beherrscht und keinen Raum für Pläne jenseits der verbrecherischen Strukturen lässt, wird in dem Roman packend vermittelt.

Poggialis Held Luigi ist ein übergewichtiger, sanftmütiger 16-Jähriger, der für die rasante Ninetta schwärmt. Mit seiner Vespa ist er überall in Neapel unterwegs, um "Monatsbeiträge" einzutreiben. Natürlich steht er im Dienst der Camorra – der Name der Organisation taucht aber kein einziges Mal auf. Nur von der mächtigen Familie Gargiulo ist die Rede, so als sei ihre Herrschaft ein unausweichliches Schicksal, dem alle unterliegen. Luigis Mutter ist seit langem verwitwet, hat eine Portiersloge unter sich und legt von morgens bis abends Patiencen. Sein kleiner, kränkelnder Bruder begeistert sich für die Schule und liest dem Älteren Geschichten von griechischen Göttern und Mythen vor.

Vor allem Hermes hat es Luigi angetan, dem er - Bote zwischen den Sphären der Mächtigen und der Machtlosen - ein bisschen zu ähneln scheint. Als er nach einem Unfall schwerhörig wird, hängt er seinen Job an den Nagel und heuert stattdessen in einer Bar an, verdient nurmehr ein Fünftel seines alten Monatslohns, hat aber wenigstens seine Ruhe. Obwohl Luigi aus den von seiner Umgebung vorgezeichneten Bahnen ausschert, will er die kratzbürstige Ninetta beschützen. Doch Ninetta ist die Verlobte eines Bosses. Für sie gibt es kein Leben außerhalb des Machtgefüges.

Der Götterbote kommt wie ein kleines Lehrstück daher, ohne je besserwisserisch oder herablassend zu wirken. Der Charme des schmalen Erstlings von Simonetta Poggiali liegt in der Gestaltung ihrer Hauptfigur, deren Weltsicht sich auch in der schlichten Sprache und der assoziativ gelockerten Erzählweise niederschlägt. Zwar lässt ihn die Neapolitanerin Poggiali, die als Lehrerin in Mailand arbeitet, für verschiedene Feuilletons schreibt und an einigen Drehbüchern für TV-Serien beteiligt war, nicht in der ersten Person Singular erzählen. Dennoch bestimmt er die Wahrnehmung des Lesers.

Die zwittrige Position, Abtrünniger der Camorra, der die Gesetze der Straße gleichzeitig verinnerlicht hat, macht ihn zu einem interessanten Charakter. Da verzeiht man der Autorin klischeehafte Nebenfiguren. Im Unterschied zu allen anderen besitzt der verträumte Luigi Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zum Mitleid. Der Leibeigenschaft jedoch, in die er als Bewohner seiner Gasse hinein geboren wurde, kann er nicht entfliehen. Die einzige Freiheit, die ihm am Ende bleibt, ist die, über seinen Tod selbst zu entscheiden.

Besprochen von Maike Albath

Simonetta Poggiali: Der Götterbote
Aus dem Italienischen übersetzt von Ulrich Hartmann
Knaus Verlag, München 2010
159 Seiten, 16,50 Euro