Ort der ewigen Jugend

21.12.2010
Mit seiner Reportage ist der argentinische Arzt Ricardo Coler dem Geheimnis der Superalten in einem ecuadorianischen Dorf auf der Spur. Der Reisebericht des Besuchs im "Tal der Hundertjährigen" bietet fesselnde Porträts und treffsichere Pointen.
Die Welt liebt Ausnahmen von der Regel, und die Welt liebt Wunder, besonders solche, die sich hartnäckig dem rationalen Zugriff entziehen. Dazu gehört das Dorf Vilcabamba im Süden Ecuadors. Seit den 70er-Jahren ist es weltberühmt. Denn hier leben zehnmal mehr Hundertjährige als anderswo.

Hier werden die Menschen locker und leichtfüßig 110, einige sogar 130. Ihre Zähne sind gesund, das Haar bleibt voll, sie lesen ohne Brille, manche hören nicht mehr ganz so gut, dafür klettern sie die Berge hoch und arbeiten täglich auf dem Feld oder im Garten. Frauen bekommen noch mit 60 Jahren Kinder, und wer erst mit 70 zum ersten Mal heiratet, fällt nicht aus der Rolle. Dabei wird geraucht und gezecht, viel Süßes, Salz und tierisches Fett gegessen – all das, wogegen Ökoapostel und Schulmediziner allerorten warnend ihre Stimme erheben.

Der argentinische Arzt Ricardo Coler hat das "Tal der Hundertjährigen" besucht, um dessen Geheimnis auf die Spur zu kommen. Aber er fahndet weniger nach wissenschaftlichen Theorien, um die rätselhafte Langlebigkeit zu erklären. Das haben vor ihm schon eine Reihe von Kollegen unternommen – ohne Erfolg. Denn bisher ist der Grund für das hohe, von Leiden freie Alter der Menschen nicht gefunden.

Auch Coler dekliniert verschiedene Möglichkeiten durch: Ist es die Kraft des Quellwassers oder die negative Ionenladung in der Luft, der Artenreichtum von Flora und Fauna oder ein bestimmtes Heilkraut, die Ruhe oder die Arbeit, der familiäre Zusammenhalt oder sein Gegenteil, ein auf sich allein gestelltes Leben, wie es hier immer wieder anzutreffen ist? Fest steht nur, dass nicht die Gene dafür verantwortlich sind, denn wer wegzieht aus dem Tal, stirbt früher. Andererseits ist Neuankömmlingen in Vilcabamba nicht automatisch ein langes Leben beschieden.

Coler, der seit Jahren seinen todkranken Vater pflegt, flechtet dessen Leidensgeschichte in seinen Reisebericht ein. Findet so immer wieder Anlässe über Hightechmedizin und ein Leben, das nur mehr von Medikamenten aufrechterhalten wird, zu räsonieren, während er darüber staunt, dass in Vilcabamba die Menschen nicht nur länger leben als andernorts, sie sterben auch anders. Der Tod ereilt die Menschen, während sie arbeiten oder schlafen. Langes Siechtum bleibt ihnen erspart.

Coler ist kein Wissenschaftler; er schildert seine Eindrücke in Form der erzählerischen Reportage. Dank eines ausgeprägten Sinn fürs Detail, für die treffsichere Pointe gelingt es ihm, fesselnde Porträts der lebenslustigen Einwohner des Andendorfes zu zeichnen. Dabei verklärt er nichts und bleibt auf der Hut, wenn man ihm die angebliche Abwesenheit von Untreue oder Heimtücke als lebensverlängernde Eigenschaften weismachen möchte. Auch die negativen Folgen des Rummels um das Dorf wie Bauboom und Tourismus kommen zur Sprache. Allerdings fehlt dabei die selbstkritische Einsicht, dass auch dieses so lehrreiche, skeptische Buch - wie alle, die von "irdischen Paradiesen" berichten - zu deren Zerstörung beiträgt. Selbst gegen seine Absicht.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Ricardo Coler: "Im Tal der Hundertjährigen. Eine Reise zum Ort der ewigen Jugend"
Aus dem argentinischen Spanisch von Sabine Giersberg
Rütten & Löning Verlag, Berlin 2010,
186 Seiten, 17,95 Euro