Originalton: Vom guten Ansäen - 3. Tag

Von den Samen und ihren Namen

Hand pflückt eine Tomate
Tomaten: "...tropfend von zerfließendem Fruchtfleisch" © picture alliance / dpa / Foto: Uwe Anspach
Von Steffen Kopetzky  · 25.03.2015
Es naht der Frühling, und so widmet sich der Schriftsteller Steffen Kopetzky in den Originaltönen in dieser Woche dem Garten mit seinen ganzen Schönheiten. Heute schauen wir mit ihm, wie aus Samen saftige Tomaten werden.
Unter all den Samen, die ich in meiner Samen-Box aufzubewahren verstehe, sind jedes Frühjahr die Tomatensamen diejenigen, mit denen ich das Ansäen beginne. Manche Samen sind gekauft, doch die mir am Wertvollsten und Liebsten sind, stammen aus eigener Zucht.
Und wie ich die Samenpäckchen mit den winzig geschriebenen Buchstaben drauf nun vom Gummi befreie, da kommt die Erinnerung an das letzte Gartenjahr gleich zurück: die Färbung, die Säure, den Geschmack, den die Sonne hervorgebracht hat, eben jene selbe uralte, immer schon gleiche Sonne, die mich aus dem Winterschlaf nun zum Gärtner wieder erwachsen ließ.
Von der schönsten Pflanze einer Sorte nimmt man die erste Tomate, die reift, man markiert sie mit einem Band, um sie dem eilig hungrigen Pflücken zu entziehen. Ist sie vollkommen ausgereift wird sie geöffnet. Man kann sie später verzehren, doch erst holt man die im Inneren schwimmenden Samen heraus. Man spült sie mit kaltem Wasser, bis sie gereinigt von allem Fruchtfleischlichem sind. Auf dem Weiß eines papierenen Küchentuchs werden sie getrocknet, eingewickelt und mit Namen versehen.
Die kostbarste, wunderbarste, leckerste Tomate
Was für schöne Namen sie haben, die Samen: Early Wonder, Bloody Butcher, Großes Ei, Blauer Tiger. Doch die kostbarste, wunderbarste, leckerste Tomate von allen, die mein Töchterchen liebt, ihrer hübschen Querschnittsform wegen, die sich ergibt, wenn man sie schneidet, und mein Sohn, weil sie auch bei hoher Reife durchaus bissfest bleibt – denn er hasst alles Mehlige – meine Frau und ich sowieso, denn im Sommer ernähren wir uns über Wochen, solange der Garten uns gibt, von Tomatensalat, den wir mit griechischem Öl und selbstgezogenem Königskraut würzen… unsere Lieblingstomate also nennen wir – Brissago.
Stark eingefurcht, von fast violett schimmernd dunkler Farbe, die ich seit drei Sommern schon kultiviere, stammt sie von der größeren der beiden Brissago-Inseln im Lago Maggiore, auf der die Baronin de Saint Legere (eine im russischen Kaiserreich geborene Antonietta Bayer) ihren Botanischen Garten anlegte, der voller tropischer Pflanzen sich zeigt, denn diese Inseln besitzen ein Klima für sich: nirgendwo in der Schweiz ist es wärmer und niemals gefriert hier der Boden.
Dort, zwischen Palmen und Bambuswäldchen voll oberschenkeldicker Stämme, zwischen denen James Joyce und Rilke mit der damals noch reichen Baronin Verstecken zu spielen gepflegt und danach einen zu heben, wanderten wir umher, es war September, doch vor dem edlen Restaurant, das nicht zu betreten unsere Kinder uns baten (denn sie sehnten sich nach einer gewissen Pizzeria in Locarno) war ein Beet mit Tomaten, baumhoch gewachsen und zum Teil schon verdorrt und voll stäubenden schwarzen Schimmels.
Überreif und fast schon tropfend
Nur eine Tomate, überreif und fast schon tropfend von zerfließendem Fruchtfleisch hing noch daran und die nahm ich mir, ganz sicher, dass sie niemand würde vermissen. Das Fleisch war nicht mehr genießbar, doch am Abend spülte ich mit reichlich Wasser die Samen frei, gab sie zum Trocknen in ein Taschentuch aus Papier, wickelte sie schließlich ein und am Ende des Urlaubs nahmen wir sie mit. Voller Trauer, da die schöne Zeit am riesigen Bergsee zu Ende war, quälten wir unsere Kutsche den Gotthard hinauf und sangen zum Trost mit Celentano Azurro.
Von den Samen dieser einen Tomate aus dem Garten der Baronin von der Insel im Tessin zog ich im Frühjahr darauf meine ersten Pflanzen und jedes Jahr wieder von der am schönsten gewachsenen nehme ich die erste Tomate, die reift und von dieser die Samen. Seit vier Sommern geht das so. Viele Kilo Tomaten haben wir von dieser einen, überreifen, ja fast schon fauligen Urfrucht geerntet. Die fünfte Generation Brissago steht nun an. Doch da ich diese, in Papier gewickelt, nun habe, muss ich Erde heranschleppen, Kistchen und manches andere, um den Samen ein inhäusiges Bett zu bereiten.

Steffen Kopetzky, der in München, Paris und Berlin Philosophie und Romanistik studierte und in seinen Romanen die ganze Welt bereiste, lebt seit etlichen Jahren wieder in Bayern auf dem Land, wo er auch als Kommunalpolitiker tätig ist. In diesem Frühjahr ist sein Roman "Risiko" erschienen.



Steffen Kopetzky , aufgenommen am 15.10.2008 , auf der 60. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main
© picture alliance / dpa / Uwe Zucchi
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