"Originalton"

Postkarte von der Wetterfront

Ein Passant läuft mit einem Regenschirm über eine Kreuzung.
Es rauscht in die staubigen Straßen hinab... © dpa / picture alliance / Kay Nietfeld
Von Jan Wagner · 01.08.2014
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche von Jan Wagner.
V - Fünfte Karte
Sonderbar, Barbara, diese Wolkenfront mit dem sofort vertrauten Profil: die markante Nase, das kühne Siegfriedkinn und sogar, unmerklich verschoben, verweht und zerpflückt, der prächtige Backenbart – richtig, es ist das Profil Richard Wagners. Zwischen Kleinhirn, Frontal- und Opernlappen beginnt es auf einmal zu blitzen, zu zucken – und schon kracht es, entlädt es sich, rauscht es Akt um Akt in die staubigen Straßen hinab. Eine Gruppe von Schulmädchen flieht vor dem Wetter, kreischend wie eine Brutkolonie, und alles verschwimmt, wird unwirklich: Ist es eine Patronenhülse oder ein Schneidezahn, was da im Rinnstein glitzert? Die Fahrräder, angelehnt an die Schilder und Gatter, eine stumme, trinkende Herde... Am Abend klart es auf, und in den Callshops beginnen die Telefone erleichtert zu klingeln. Nur die Pfützen bleiben noch ein bisschen, freudig begrüßt von Spatzen und Kindern, fügen Himmel und Erde zusammen, sind immer oben und unten zugleich. In den Schlaglöchern und Rinnsteinen, zwischen Yogastudios und Imbissbuden, spiegeln sie einmal noch, bevor sie verschwinden, ein Stückchen von ihrer, von unserer Welt, flüchtigste Gäste, gehen dann wie Gespenster mitten durch sie hindurch. Im Fitnessstudio, Barbara, brennt noch Licht, und auf den Dächern werden die Amseln gedrosselt.

Jan Wagner debütierte als Dichter 2001, er gab eine Literaturzeitschrift heraus und veröffentlicht neben Lyrikbänden auch Kritiken und Essays. Für Deutschlandradio Kultur hat er eine Reihe von Postkarten geschrieben. Adressiert sind sie an "Barbara" - wir mutmaßen, dass unsere Kollegin Barbara Wahlster damit gemeint ist, die Jan Wagner zum Mitmachen eingeladen hat.